Dienstag, 13. Mai 2025, Berliner Zeitung
Zittern vor der Hellbrise
Was, wenn zu Pfingsten das Gegenteil der Dunkelflaute eintritt? Experten haben Ideen für den Ausgleich von „Zappelstrom“. Ein ehemaliger DDR-Minister sorgt sich um die heiligen 50 Hertz

Maritta Tkalec
Die Energiewende durch Ausbau von Wind- und Solarstromerzeugung bringt ein neues Krisenwort hervor: die Hellbrise, das Gegenteil der Dunkelflaute. Die Hellbrise-Krise droht, wenn die Sonne mittags vom wolkenlosen Himmel scheint und zugleich ein frischer Wind weht. Dann kann es leicht zu viel des Guten werden. Und wenn obendrein, zum Beispiel an Feiertagen wie demnächst über Himmelfahrt oder Pfingsten, der Stromverbrauch sinkt, herrscht Megastau auf der Stromautobahn. Dann heißt es: Zufahrten schließen.
Mit anderen Worten: Die Netzbetreiber schützen das System vor dem Zusammenbruch – einem Blackout –, indem sie die Erzeugung abregeln, also den Wind- und Solarstrom nicht mehr abnehmen. Der Stromhandelsexperte Amani Joas hat im Fachblatt pv magazine nachgerechnet, auf welche Energiemengen das Überangebot in solch einer Hellbrise-Periode steigen kann: auf 5,9 Gigawatt. Das entspricht der Leistung von fünf Kernkraftwerken.
Auch außerhalb solcher Spitzenproduktionszeiten hält der „Zappelstrom“ – das stetig wechselnde Angebot durch Erneuerbare – die Netzbetreiber unter Spannung. Die halten das Problem, wie gesagt, für beherrschbar, denn sie verfügen über eine Reihe von Maßnahmen, um das Netz stabil bei der erforderlichen Frequenz von 50 Hertz zu halten – mehr als plus/minus zwei Hertz wären allerdings fatal.
Dann steht ein Ereignis wie der „gran apagón“ ins Haus – so nennen die Spanier den großen Stromausfall vom 28. April 2025, 12.33 Uhr. Die Ermittlungen zur genauen Ursache laufen, aber fest steht: Bereits in der halben Stunde vor dem Blackout schwankte die Netzfrequenz ungewöhnlich heftig um die heilige Marke von 50 Hertz.
Neustart der Energiewende
Amprion, einer der vier Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland, regierte kürzlich, noch vor dem iberischen Stromausfall, auf die deutsche Hellbrise-Angst: Im Fall eines Falles werde man im ersten Schritt jene Leitungen abschalten, an die nur Erzeuger von Strom angeschlossen sind. Da kleinere Anlagen wie die etwa 400.000 Balkonkraftwerke deutschlandweit nicht steuerbar sind, sei „die Abschaltung der ganzen Leitung die einzige Option“.
Sollte das nicht reichen, würden in „einem zweiten und letzten Schritt“ alle Stromleitungen vorübergehend und kontrolliert abgeschaltet, also auch jene, die Strom zum Verbraucher bringen. Dann wären auch Haushalte von Stromabschaltungen betroffen.
Kein Grund zu Riesenpanik also, aber das Hellbrise-Phänomen offenbart doch ein erhebliches Problem, auf das die Chefs zweier großer Energieerzeuger, RWE und Eon, Mitte März in der FAZ hinwiesen: Man brauche dringend eine bessere Balance zwischen Nachhaltigkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit. Mit anderen Worten: Die Energiewende läuft, aber sie läuft nicht rund, sie braucht „einen Neustart“.
Und dabei ließen sich Unsummen sparen, „ein dreistelliger Milliardenbetrag“. Erzeugung, Übertragung und Vertrieb müssten viel stärker als ein System gedacht, Ausbau der Erneuerbaren und der Stromnetze besser koordiniert werden. Statt einen politischen Plan abzuarbeiten, müsse man den Kundenbedarf anschauen.
Der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Regierung sieht vor, der „zu erwartende Strombedarf sowie der Stand der Versorgungssicherheit, des Netzausbaus, des Ausbaus der Erneuerbaren Energien, der Digitalisierung und des Wasserstoffhochlaufs“ werde bis zur Sommerpause 2025 durch ein Monitoring geprüft. Man stehe für „eine konsequente Ausrichtung aller Bereiche auf Bezahlbarkeit, Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit“. Unpolemisch ausgedrückt: Wir verschaffen uns (unverzüglich) einen Überblick über die grüne Energiepolitik der vergangenen Jahre und sehen dann weiter.
Bei Praktikern mit jahrzehntelanger Alltagserfahrung im Energiebereich der DDR herrschen seit langem regelrecht Wut und Verzweiflung über die deutsche Energiepolitik der jüngsten Vergangenheit. Wissen die dafür verantwortlichen Politiker überhaupt, was 50 Hertz bedeutet?
Niemand in der Runde, die sich im Erzählsalon der Generaldirektoren ehemaliger DDR-Betriebe bei der Verlegerin Katrin Rohnstock traf, hat etwas gegen erneuerbare Energien. Niemand leugnet den Klimawandel und seine dramatischen Folgen. Dennoch geriet das jüngste Treffen zu einem Tribunal über die bislang überwiegend von Grünen geprägte Energiepolitik der Ampel: „Die haben Deutschland in eine Sackgasse geführt“, so die herrschende Auffassung.
Kein anderes Land leiste sich solche Zustände: bei weitem nicht ausreichende Grundlastversorgung an Energie, ein Doppelsystem von Erneuerbaren und Fossilen unter Verzicht auf stabil zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jedem Wetter liefernde Kernkraftwerke.
Alles in allem ein labiles Konstrukt, das von Träumereien ausgehe: Verfehlt oder zumindest verfrüht, wie der Naturwissenschaftler Alexander Schmeijkal in seinem Einführungsvortrag resümierte. Schmeijkal ist nicht nur Ingenieur, sondern hat auch Erfahrungen in der Politik, u.a. als stellvertretender Stadtbezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg.
Dr. Wolfgang Mitzinger, von 1979 bis 1989 DDR-Energieminister, antwortete als bodenständiger Profi, der sicher ist, dass ideologisch gesteuerte Leute ohne Ahnung von Energie den jetzigen Zustand verursacht haben: Versorgung sei immer das Wichtigste, „die muss gesichert sein – koste es, was es wolle“.
Nach der fernen Zukunft, in Jahrzehnten vielleicht verfügbaren technologischen Möglichkeiten wie der Kernfusion habe er in seiner täglichen Sorge nicht fragen können. Was wohl sagen soll: Das ist auch nicht die erste Aufgabe eines heutigen Energieministers. Zuletzt war das drei Jahre lang der Grüne Robert Habeck. Keiner vom Fach, das wird mehrfach betont. Der habe nicht die Versorgungssicherheit im Kopf gehabt, sondern Visionen von Dekarbonisierung und Denuklearisierung.
Der Energieminister müsse den Laden zusammenhalten. Das habe ihm, Mitzinger, unzählige schlaflose Nächte bereitet. Ohne Energie laufe eben nichts – weder Verkehr noch Industrie noch der eigene kleine Haushalt. Er ist überzeugt, dass Robert Habeck als Minister „die Energiewirtschaft ruiniert“ hat.
Es gebe faktisch kaum noch Grundlastkraftwerke in Deutschland. Starke Schwankungen, wie sie mit der wetterabhängigen Stromerzeugung durch Wind und Sonne verbunden sind, bedeuteten unsichere Versorgung. Für diese Verfahren „fehlen einfach die Speicher“. Darauf müsse man sich jetzt konzentrieren.
Die Sorge des Ministers findet ihren Kern im schon erwähnten, nicht zu umgehenden 50-Hertz-Gebot. Die im Netz stabil zu haltende Stromfrequenz, sei das Maß der Dinge, so Schmeijkal. Für ihn ist klar, dass die Energie der Zukunft nicht fossil sein kann, hält aber eine Übergangszeit von 20 Jahren für notwendig. Er gibt zu bedenken, dass der Strombedarf ständig steige – durch Digitalisierung, den Einsatz Künstlicher Intelligenz, der Elektromobilität, auch durch das Heizen.
Und die Energiequellen? Dem Wasserstoff, Effizienzsteigerungen und einem Ende der Verschwendung misst er große Bedeutung zu. Und letztlich der Sonne – wenn es dereinst gelingen sollte, Energie zu produzieren wie dort, durch Kernfusion. Das wäre die große Lösung. Aber wie macht man das, wenn diese Prozesse bei der unfassbar hohen Temperatur von 200 Millionen Grad Kelvin wie in der Sonne ablaufen?
Ein Material, das solche Temperaturen aushielte, kennt die Welt bisher nicht. Der neue Koalitionsvertrag enthält folgenden Satz: „Wir wollen die Fusionsforschung stärker fördern. Unser Ziel ist: Der erste Fusionsreaktor der Welt soll in Deutschland stehen.“ Allerdings, so Schmeijkal habe sich Deutschland mit der Stilllegung der letzten AKW, von der Wissenschaft und Forschung im Kernenergiebereich verabschiedet.
Die neue, für Energie zuständige Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, CDU, geboren in Luckenwalde, Brandenburgerin, weiß als Diplomchemikerin und Energiemanagerin immerhin, was Moleküle machen und was 50 Hertz im Stromnetz bedeutet.
Die früheren Wirtschaftslenker im Generaldirektorensalon waren schon dabei, als das DDR-Energienetz aufgebaut wurde. Sie hatten in den 40 DDR-Jahren mit immer wieder wechselnden Krisen zu tun: Zuerst war überhaupt eine eigene Energiebasis zu schaffen; die Steinkohle lag schließlich im Ruhrgebiet, und Schlesien war seit 1945 polnisch. Es rauchten ein paar Braunkohlekraftwerke aus Kaisers Zeiten.
Die Hauptenergieträger wechselten: Erst lieferte Braunkohle den Großteil der Energie, dann sowjetisches Öl, gefolgt von sowjetischem Erdgas – und als die Sowjetunion Weltmarkt- statt Freundschaftspreise verlangte, kam wieder Braunkohle in Dimensionen ins Spiel. Die Not machte erfinderisch: In Freiberg (Sachsen) wurde ein Verfahren zur Gewinnung von Gas aus Braunkohle entwickelt, das Werk Schwarze Pumpe produzierte, 75 Prozent der DDR-Haushalte wurden mit Gas aus der Kohlevergasung in der Schwarzen Pumpe (samt Abscheidungssystem) versorgt. Der Standort Schwarze Pumpe in Brandenburg wurde im Jahr 2007 stillgelegt, andere Länder greifen derzeit die Technologie verstärkt wieder auf.
Für völlig abwegig hält Eckhardt Netzmann, als Generaldirektor des VEB Schwermaschinenbaukombinat SKET in Magdeburg kampferprobt in schwierigen Situationen aller Art, die Idee, 50 Gaskraftwerke zum Überbrücken von Produktionsschwankungen und schweren Mangellagen, zum Beispiel bei Dunkelflaute, zu bauen: „Wer ist so dumm und investiert in Gaskraftwerke, die nur gelegentlich gebraucht werden und obendrein nur einen geringen Wirkungsgrad haben?“ Das müsse dann wohl der Staat, also der Steuerzahler, tragen, was dann wieder höhere Preise bedeute, mutmaßt er.
Großbatteriespeicher in Ragow
Tatsächlich sieht der neue Koalitionsvertrag den Zubau von 20 Gigawatt an Gaskraftwerksleistung bis 2030 vor, was man „im Rahmen einer zügig zu überarbeitenden Kraftwerksstrategie technologieoffen anreizen“ wolle. Reservekraftwerke sollten „nicht nur zur Vermeidung von Versorgungsengpässen, sondern auch zur Stabilisierung des Strompreises zum Einsatz kommen“, heißt es weiter.
Wer aber zahlt die Stillstandszeiten der Reserve? Dazu gibt es keine Auskunft. Der Strompreis aber soll um mindestens fünf Cent pro Kilowattstunde gesenkt werden, durch die Senkung der Stromsteuer. Was nichts anderes bedeutet als weniger Staatseinnahmen oder: Der Staat zahlt durch Verzicht.
Auch Netzmann hält die Frage der Speicherkapazität für zentral. Derzeit habe Deutschland eine Speicherkapazität für eine Stunde Strombedarf. Das kann sich ändern, wenn die vielen beantragten Groß-Batteriespeicher angeschlossen sind. Der deutschlandweit größte entsteht in Ragow bei Lübbenau.
Die Spezialisten arbeiten auch an technischen Lösungen gegen Zappelstrom, zum Beispiel sogenannte Statcom-Anlagen – superschnell reagierende Stromspeicher zur Netzstabilisierung oder SynCon-Systeme, die mithilfe mehr als hundert Tonnen schwerer Stahlgewichte arbeiten, die synchron zur Netzfrequenz rotieren und ausgleichend wirken, so wie bisher schon die Rotoren in Kraftwerksturbinen. Alles sehr technisch – aber kein Hexenwerk.
Ein noch von der Ampel am 25. Februar 2025 in Kraft gesetztes Solarspitzengesetz schreibt Schritte gegen Netzüberlastung bei Hellbrise vor, doch ist längst nicht alles umgesetzt. Da muss man wohl auf ein wolkiges Pfingsten hoffen.