In Moabit lebt man ruhiger und günstiger als in fast allen anderen Bereichen innerhalb des S-Bahn-Rings. Eigentlich müsste der Stadtteil längst von Hipstern überrannt und durchgentrifiziert worden sein. Aber wer nicht hier wohnt, denkt nur selten an Moabit. Und wenn doch, dann denkt er oder sie vor allem: an Gefängnis. Schließlich gibt es hier gleich mehrere Haftanstalten.

Zwei davon liegen in meiner Straße: Gleich am Anfang das alte Zellengefängnis Lehrter Straße, zu seiner Entstehungszeit in den 1840er-Jahren die weltweit erste Haftanstalt mit Einzelzellen und heute ein gelungener Gedächtnispark; etwa mittig dann das ehemalige Berliner Frauengefängnis, in dem viele Teile der Erfolgsserie „Babylon Berlin“ gedreht wurden. Und dann gibt es, etwa zehn Minuten Spaziergang von meiner Wohnung entfernt, die zwischen 1877 und 1881 erbaute und nach wie vor in Betrieb befindliche JVA Moabit, gleich neben dem Kriminalgericht.

Wie ein unbelebter Klotz liegt sie in der Mitte des Stadtteils. Von hohen Mauern umgeben, scheint sich hinter den engmaschigen Gitterstäben vor den Fenstern zumindest von außen erkennbar gar nichts zu rühren. Doch an meiner Wahrnehmung hat sich kürzlich etwas geändert.

Auf dem Weg vom Supermarkt nach Hause laufe ich an der JVA vorbei, da lassen mich laute Rufe zusammenzucken. Vier junge Leute, drei Männer und eine Frau, stehen auf dem Bürgersteig und brüllen über die Straße. Lauter und kräftiger allerdings, als wollten sie bloß einen Freund auf der anderen Straßenseite grüßen. Ihr Freund, so verstehe ich rasch, steht noch ein bisschen weiter entfernt – in der JVA, hinter einem der Gitterfenster. Gerade denke ich, dass die vier ihr Gegenüber wahrscheinlich gar nicht sehen und nicht wissen, hinter welchem Fenster seine Zelle liegt. Doch tatsächlich schallt es aus der Mitte des großen Gefängnisareals zurück – dumpfe, für mich nicht zu entschlüsselnde Rufe. Die vier Menschen auf dem Bürgersteig rufen aufgeregt zurück, winken, als könnten sie ihren Freund tatsächlich durch die Gitterstäbe sehen, die Frau scheint sich eine Träne aus dem Gesicht zu wischen.

Ich gehe weiter, die vier bleiben stehen – bis ich um die nächste Ecke gebogen bin, höre ich ihre Rufe. Die Situation lässt mich mit vielen Fragen zurück. Was mag der Mann gemacht haben, um in der JVA zu landen? In welchem Verhältnis steht er zu den vier Menschen auf dem Bürgersteig? Wie oft kommt es vor, dass dort über die hohen Mauern hinweg kommuniziert wird? Und vor allem: Warum habe ich bisher nie realisiert, dass inmitten dieses bemerkenswerten Stadtteils ein Gefängnis liegt, in dem noch immer Leben ist?