Mittwoch, 16. April 2025, Berliner Zeitung
„Wer gar nicht arbeitet, ist verdächtig“
Die Leipziger Schriftstellerin Heike Geißler wendet sich gegen üble Nachrede in Richtung Bürgergeldempfänger. Sie sagt aber auch, dass sie die Superreichen nicht für Leistungsträger hält
Wir lieben, schlafen, wohnen – und wir verbringen sehr viel Zeit damit zu arbeiten. Heike Geißler hat über das „Arbeiten“ (so auch der Titel) als den identitätsstiftenden, oft auch zur Verzweiflung treibenden Teil unseres Lebens ein aufrüttelndes Buch geschrieben. Wir treffen uns in Berlin, um über Unterschiede zwischen Ost und West zu sprechen sowie darüber, was sich ändern muss.
Frau Geißler, wir haben in der Schule ein Gedicht von Georg Maurer interpretieren müssen: „Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen“. Kennen Sie das auch?
Nein, aber ich kann es suchen, wir haben die Gesamtausgabe von Maurer zu Hause.
Es ist nicht sein bestes, aber es ist eines, was man in der DDR gut benutzen konnte, um den Wert der offiziell herrschenden Klasse zu preisen. Wie haben Sie das als Arbeiterkind erlebt?
Sie war behauptetermaßen die Elite. Fühlte sich aber trotzdem nicht so an. Ich habe mich nicht privilegiert gefühlt. Andere hatten auch mehr Geld. Ich war ziemlich gut in der Schule, aber ich durfte nie Gruppenratsvorsitzende bei den Pionieren sein. Wahrscheinlich, weil meine Eltern nicht in der Partei waren. Es wurde dann eine, deren Vater ein hohes Tier bei der Polizei war. Bemerkenswert fand ich immer dieses Leben, das auf der Arbeit stattfand. Diese Frauenkollektive sieht man ja jetzt teilweise auch noch auf Fotografien: sehr lustige Frauen, sehr körperlich.
Haben Sie Ihre Mutter auf der Arbeit besucht?
Ja, sie hat mir jetzt für das Buch noch einiges davon erzählt, wie sie mich mitgenommen hat, wenn ich mal krank war, im Kinderwagen. Meine Mutter war als sehr junge Frau für viele Postämter verantwortlich, im Umkreis von Riesa. Ich erinnere mich selbst an viele Nachmittage auf der Post. Ich habe mit Formularen gespielt und dem großen Leimtopf. Manchmal habe ich geholfen, Pakete aus dem Lkw zu holen, gerade in der Weihnachtszeit. Da habe ich dann immer auf unser eigenes Westpaket gewartet.
Waren Sie auch mal bei Ihrem Vater in der Fabrik?
Nein, vielleicht hat das mit der klassischen Mann-Frau-Aufteilung zu tun. Zudem war das Stahlwerk kein kinderfreundlicher Ort: sehr laut, sehr schmutzig, auch klimatisch kompliziert.
Haben Sie es nach 1989 als Einschnitt erlebt, wie dann die Eltern die Arbeit verloren, oder haben Sie das erst später recherchiert?
Das Ende der DDR und die ersten Jahre der Vereinigung fielen in die Zeit meiner Pubertät. Meine Eltern haben ihrs gemacht. Ich erinnere mich aber daran, dass mein Vater oft vor dem Fernseher saß, der gar nicht lief. Es gab so ein Schweigen, als wäre dem Wohnzimmer die Luft entzogen. Und dass er Zeit hatte, mich zur Schule zu fahren, mit unserem neuen Westauto, ein Service, den ich gern beanspruchte. Meine Mutter hat ihre Arbeit sogar selber weggekürzt. Das passierte außerhalb meines Erfahrungszentrums. Für mich war es auch viel: neues Geld, neue Schule, neue Menschen. Es tauchten diese Besserwessis auf. Und die vietnamesischen Gastarbeiter:innen verkauften plötzlich Zigaretten.
Wie haben Ihre Eltern die Zeit erlebt?
Sie waren mit vielem nicht zufrieden in der DDR, hatten aber immer eine Ahnung davon, wie es weitergeht. Dann wurden alle Selbstverständlichkeiten infrage gestellt, auch so etwas wie der Selbstwert. Für viele Leute dieser Generation war es eine harte Zäsur.
Ihr Buch erscheint bei Hanser Berlin in der Reihe zu Tätigkeiten wie „Schlafen“, „Wohnen“ und „Streiten“. Für das „Arbeiten“ bräuchte man eigentlich zwei verschiedene Ausgaben – die West-Sicht, in der sich das Verhältnis zur Arbeit nie groß verändert hat, und die Ost-Sicht mit diesem Bruch im Arbeitsleben.
Ach, ich glaube, jeden Band könnte man noch mehr auffächern. Allein das „Lieben“ hat viele Spielarten. Das Arbeiten hat noch weitere Aspekte, auf die ich nicht eingehen kann, die ganze Care- oder Pflegearbeit zum Beispiel. Oder wie ist es den Gastarbeitern und Gastarbeiterinnen seit den 70er-Jahren ergangen? Die unterschiedlichen Arbeitswelten zwischen Ost und West erkennt man heute an den Wahlergebnissen wieder.
In Ihrem Buch richten Sie kritische Briefe an die „liebe Arbeitswelt“. Wie kamen Sie darauf?
Ich habe da eine Form aufgegriffen, die auf Mariana Alcoforado zurückgeht, eine portugiesische Nonne aus dem 17. Jahrhundert. Sie war unglücklich verliebt und rechnet in fünf Briefen mit dem Mann ab. Sie macht ihm Vorwürfe: Wie kannst Du nur so sein? An die Arbeitswelt fühlen wir uns auch eng gebunden. Kinder werden schon gefragt, was sie mal werden möchten. Durch Arbeit können wir Geld verdienen und sinnvoll auf der Welt sein – das ist es offenbar, was Georg Maurer in seinem Gedicht meint. Aber dann gibt es so viele Zumutungen, so viel Druck und so schlechte Bedingungen. Da fand ich diese Briefform und den Klageton der Nonne hilfreich, um eindeutig zu sein. Ich lehne nicht die gesamte Arbeitswelt ab, aber so, wie sie sich zeigt, kann man ihr nicht über den Weg trauen.
Kinder sollen früh Berufswünsche nennen. Und wenn sich Menschen kennenlernen, wird meistens gefragt: Was machst du? Da geht es nicht um die bevorzugte Tätigkeit.
Stimmt. Ich habe mal richtig Ärger bekommen, weil eine Person diese Frage als Zumutung empfand. Sie hätte sich die Freiheit nehmen können, zu sagen: Ich stricke. Klar, ich habe nach einer Berufstätigkeit gefragt. Denn das ist interessant. Was ist unser Zugriff auf die Welt? Wer gar nicht arbeitet, ist verdächtig, manchmal auch mir. Also wenn eine Person wohlhabend ist und deshalb nicht arbeiten muss, hat sie einen ungerechten Vorteil.
Ihnen ist jemand verdächtig, der wegen Reichtums nicht arbeitet. Zunehmend mehr Politikern sind die Menschen verdächtig, die von Bürgergeld leben.
Die tun so, als gebe es nur sogenannte Sozialschmarotzer. Diese wenigen sind aber gar nicht das Problem. Und das gilt auch für andere Bereiche, den Klimawandel. Ich muss nicht meine Eltern belehren, dass sie nicht das billige Fleisch kaufen sollen. Meine Eltern sind nicht das Problem, sondern die Leute, die durch Konsum einen solchen Einfluss auf die Welt haben, dass sie Ressourcen im Übermaß verbrauchen. Die politische Sicht immer nur auf Leute, die sich nicht wehren können, finde ich kriminell. Jene Superreichen, die oftmals kaum Steuern zahlen, sind gerade keine Leistungsträger, auch wenn das gern so behauptet wird.
Sie prüfen die Wörter sehr genau, zum Beispiel Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Das habe ich von Helga M. Novak übernommen: Wer gibt Arbeit und wer nimmt Arbeit?
In einem Fall ist die Realität schneller als Ihr Buch. Sie schreiben noch vom Vorwurf des Blaumachens an kranke Arbeitnehmer und nennen das eine Verhöhnung. Jetzt wird ja diskutiert, dass der erste Krankentag nicht mehr bezahlt wird. War das im Osten anders, weil die Arbeiterklasse offiziell wertgeschätzt wurde?
Ja, das glaube ich auf jeden Fall. Wenn wirklich Leute schwänzen, anstatt krank zu sein, muss man doch an das Problem ran, dass die Arbeit nicht erfüllend ist.
Gehört das Phänomen der stillen Kündigung dazu, dass man nur noch Dienst nach Vorschrift macht, wenig engagiert?
Ja, das Quiet Quitting, wie man es nennt. Ich glaube nicht, dass man sich immer zu 100 Prozent engagieren muss. Aber wenn Menschen nicht wirklich interessiert sind an dem, was sie tun, ist das auch ein Resultat der Arbeitswelt, wie sie konstruiert ist. Dann müsste man mal darüber sprechen, was als sinnvolle Arbeit empfunden wird, auch über Arbeitszeiten.
Sie schreiben, die Hilfsbereiten werden dem Finanzkapitalismus als „als kleiner Gruß aus der Bevölkerungsküche“ serviert. Was meinen Sie?
Soziale Arbeit ist die am wenigsten geschätzte und am schlechtesten bezahlte, also eigentlich die, die den anderen Menschen am meisten nutzt. Die Müllabfuhr, die Leute, die im Personennahverkehr arbeiten. Auch Lehrkräfte zum Beispiel. Die Arbeitenden haben keine Lobby. Oder sie werden gelobt, aber ihre Bedingungen werden nicht verbessert. Denken Sie an das Klatschen zur Coronazeit für die Pflegekräfte.
Was kann man ändern?
Der Kapitalismus tut den Menschen nicht gut. Die Schere zwischen Reich und Arm geht weiter auseinander. Ich glaube, Geldverteilung allein reicht nicht, es braucht eine Veränderung der Arbeitswelt. Die Globalisierung hat ganze Regionen zerstört. Man kann diese Entwicklungen nicht mehr zurückdrehen. Eine bessere Entwicklung nach vorn könnte zum Beispiel auf Regionalität setzen, auf das Konzept der kurzen Wege. Wir brauchen nicht alles, was wir haben. Wir haben zu viel, wir wollen zu viel. Die Welt hat nicht genug Ressourcen. Ich glaube, Veränderungen können am besten von kleineren Gruppen ausgehen, die sich gegen bestimmte Lebens- und Arbeitsweisen entscheiden, Kommunen, größere Wohngemeinschaften, vielleicht auf alten Bauernhöfen.
Also nicht von einer Regierung?
Ich glaube, die Regierungen, die derzeit mehrheitsfähig sind, machen so was nicht. Sie signalisieren nichts dergleichen, und ich traue es ihnen auch nicht zu.
Vor elf Jahren erzählten Sie in Ihrem Buch „Saisonarbeit“ aus dem Inneren eines Amazon-Auslieferungslagers. Sie hatten sich dafür selbst in die Abläufe eingeschleust. Wäre es an der Zeit, diesen Versuch zu wiederholen?
Nein. Ich finde dieses Unternehmen schrecklich. Ich wünschte, es wäre nicht in diesem Maße erfolgreich und würde Jeff Bezos nicht in die Lage versetzen, nun auch noch Raketen zu anderen Planeten zu schicken. Vermutlich will er noch ins Universum expandieren.
Sie haben wenige Wochen zuvor das Buch „Verzweiflungen“ veröffentlicht. Kann man mit Arbeit auf Verzweiflung reagieren?
Ja, bestimmt, klar. Das kann eine gute Arbeit, also eine Arbeit im Sinne einer Gemeinschaft oder die sinnstiftend ist, mit der man anderen Leuten Freude macht, sie vielleicht staunen lässt.
Andererseits kann Arbeit zu Verzweiflung führen.
Das ist meine Hauptanklage gegen eine Arbeitswelt, die viel Gutes erzeugt, viel mehr Gutes erzeugen müsste, es aber nicht tut. Der Mensch wird als verschleißender Faktor in Kauf genommen, wird auf vielerlei Art ausgebeutet: psychisch, körperlich, finanziell und was seine Perspektiven in Zukunft angeht. Ich glaube sogar, dass vielen der Gemeinschaftssinn verloren gegangen ist, wie eine verlernte Kompetenz. Das ist unter anderem eine Corona-Folge. Ich war in Berlin, als bei der BVG gestreikt wurde, und hörte zufällig jemandem zu, der sich am Telefon aufregte. Ich fand es so schade, dass er nicht trennte zwischen der Zumutung, die der Streik für ihn erzeugt, und dem Anlass für den Streik. Es ist so etabliert, gegeneinander zu schießen, anstatt sich füreinander zu interessieren.
Aber die SPD, die ursprüngliche Arbeiterpartei, hat versäumt, die Solidarität zu stärken. Sie zitieren den Gerade-noch-Bundeskanzler Olaf Scholz, der gesagt hat: Wir sind zum Arbeiten geboren.
Wenn er es anders gesagt hätte, würde ich zustimmen. Also im Sinne von: Wir sind auf der Welt, um sinnvoll aktiv zu sein. Aber Entschuldigung, wir sind nicht für dieses Wirtschaftssystem auf der Welt.
Interview: Cornelia Geißler