Samstag, 5. April 2025, Berliner Zeitung
Exklusives Erinnern
Zum Kriegsende-Jubiläum empfiehlt das Auswärtige Amt, russische und belarussische Vertreter von Gedenkveranstaltungen auszuschließen – notfalls per Hausrecht

Nicolas Butylin
Bei den Gedenkveranstaltungen rund um den 80. Jahrestag der Befreiung von Nazi-Deutschland sind offizielle Vertreter Russlands und Belarus’ in Berlin und Brandenburg nicht willkommen. Das geht aus einer Handreichung des Auswärtigen Amts (AA) hervor, die der Berliner Zeitung vorliegt. Darin wird Landkreisen und Kommunen empfohlen, keine Einladungen an russische oder belarussische Diplomaten auszusprechen – und notfalls sogar ungebetene Gäste wieder wegzuschicken.
In dem internen Papier, das über das Brandenburger Innenministerium an die Landräte und Kreise verschickt wurde, heißt es wörtlich: „Für das diesjährige Gedenken wird, aufbauend auf der bisherigen Linie und im beschriebenen Spannungsfeld, folgende Handlungsempfehlung für den Umgang mit Russland und Belarus vorgeschlagen. Diese richtet sich an Auslandsvertretungen des Auswärtigen Amts und im Inland an Bundesländer und Kommunen sowie Gedenkstätten und sonstige Einrichtungen.“ Danach heißt es im Detail: „Im Inland grundsätzlich keine Teilnahme offizieller Stellen an Veranstaltungen auf Einladung von Russland/Belarus und keine Einladung an russische und belarussische Vertreter zu Gedenken von Bund, Ländern und Kommunen.“
Zu den offiziellen deutschen Veranstaltungen heißt es: „Da wir unsere Erinnerungskultur bewusst pflegen wollen, sind eine Vielzahl eigener Gedenkveranstaltungen im In- und Ausland in Planung.“ Und weiter: „Sollten Vertreter von Russland oder Belarus bei Veranstaltungen im Inland unangekündigt erscheinen, können Einrichtungen in eigenem Ermessen und mit Augenmaß von ihrem Hausrecht Gebrauch machen.“ Bei Einladungen anderer Staaten sei „eine Teilnahme grundsätzlich möglich bzw. erwünscht, auch wenn ein Erscheinen von russischen und belarussischen Vertretern nicht auszuschließen ist“.
Am brisantesten die Passage zum Hausrecht. Sollten sich trotz ausdrücklicher Nichteinladung Vertreter der unerwünschten Staaten einfinden, können die Veranstalter die Besucher an Ort und Stelle vor die Tür setzen. Das Ministerium spricht zwar von „Augenmaß“, doch in der Praxis bedeutet dies: Ein einfacher Sicherheitsdienst könnte ranghohe Diplomaten der Länder des Gedenkortes verweisen, an dem zum 80. Mal um deren Gefallene getrauert wird.
Selbst wenn Landräte oder Bürgermeister persönliche Kontakte zu russischen oder belarussischen Diplomaten pflegen – offizielle Einladungen zu kommunalen Gedenkveranstaltungen sind nach der AA-Leitlinie tabu. Dies gilt ausdrücklich auch für lokale Feiern in Orten mit historisch engen Bindungen, wie etwa an den Schlachtfeldern der Oderregion. Auch der traditionelle Empfang nach der Kranzniederlegung soll in diesem Jahr ohne russische Teilnahme stattfinden.
Begründet wird die harte Linie mit einer „absehbaren“ Instrumentalisierung des Gedenkens durch offizielle Vertreter der russischen oder belarussischen Botschaft. Das Außenministerium warnt in seinem Schreiben vor „Propaganda, Desinformation und geschichtsrevisionistischer Verfälschung“. So schreibt das AA: „Gleichzeitig ist zu erwarten, dass Russland (gemeinsam mit Belarus) das Weltkriegsgedenken instrumentalisieren und mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine missbräuchlich in Verbindung bringen wird.“ Moskau und Minsk, so das Außenministerium in Berlin, würden die anstehenden Gedenkfeiern in Seelow, Altlandsberg oder am Treptower Park für sich vereinnahmen. In dem internen Papier verweist das AA lediglich in einem Satz auf die Notwendigkeit, die Opfer aus Russland und Belarus angemessen zu würdigen.
Das Auswärtige Amt teilte der Berliner Zeitung mit, dass die Fragen der Zeitung „geprüft“ würden. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe lagen keine Antworten vor. Ein Sprecher der russischen Botschaft wollte sich zu dem Vorgang nicht äußern. Aus dem Umfeld der diplomatischen Vertretung Russlands in Deutschland spricht man von einem Skandal.
Eine explizite Ausladung bestätigte dagegen der Geschäftsträger der belarussischen Botschaft in Berlin, Andrei Shuplyak, der Berliner Zeitung. Ende März dieses Jahres habe die Minsker Vertretung in Deutschland, die in unmittelbarer Nähe zum Sowjetischen Ehrenmal am Treptower Park beheimatet ist, ein Schreiben der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora bekommen. Demnach soll der Stiftungsdirektor Jens-Christian Wagner die Entscheidung getroffen haben, dass belarussische Vertreter auf Gedenkveranstaltungen in den kommenden Wochen in Thüringen unerwünscht seien. Von den Handreichungen aus dem AA habe die belarussische Botschaft keine Kenntnis.
In Belarus sorgt die Ausladung jedenfalls für Empörung. „Wir verurteilen die Weigerung der Leitung der deutschen Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, belarussischen Diplomaten die Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Befreiung dieser Konzentrationslager nicht zu gestatten, aufs Schärfste“, heißt es in einem X-Post des belarussischen Außenministeriums.
„Es gibt keine Rechtfertigung für das zynische Vorgehen der deutschen Stiftung gegenüber einem Land, in dem jeder dritte Mensch im Krieg starb und in dem es keine einzige Familie gibt, die nicht vom Krieg betroffen war. Leider stehen solche Aktionen der Stiftung im Einklang mit der Politik bestimmter politischer Kräfte im Westen, die darauf abzielen, die Geschichte zu verändern und den deutschen Nationalsozialismus zu rechtfertigen“, so das Minsker Außenamt. „Diese Entscheidung ist eine Fortsetzung der Politik der Spaltung der Menschen auf der Grundlage ihrer Nationalität“.
Groteske Lage
Während des Zweiten Weltkriegs erlitt Belarus (damals Weißrussische SSR) prozentual die höchsten Verluste aller sowjetischen Republiken durch die deutsche Besatzung. Schätzungsweise 2,2 bis 2,5 Millionen Sowjet-Belarussen wurden von den Nazis und ihren Kollaborateuren getötet. Belarus verlor mehr als jeder andere europäische Staat prozentual an Bevölkerung – etwa 25 bis 30 Prozent.
Derweil fragen sich hinter den Kulissen mehrere Brandenburger Landräte, warum ausgerechnet Nachfahren der Roten Armee bestraft werden, die Deutschland 1945 vom NS-Terror befreit hatten. „Einerseits pflegen wir Hunderte sowjetische Gräber, andererseits dürfen wir die Nachfahren der Toten nicht einladen“, schildert ein Landrat die groteske Lage. Ein Bürgermeister einer brandenburgischen Stadt, der anonym bleiben möchte, erzählt der Berliner Zeitung, dass es Ende März Videokonferenzen zu dem Thema gegeben habe. Einer der Hauptakteure soll Michael Nowak, der aktuelle Geschäftsträger der deutschen Botschaft in Minsk gewesen sein.
In den kommenden Wochen wird an vielen Orten in Berlin und Brandenburg an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 80 Jahren gedacht. Entscheidende Schlachten gegen Hitler-Deutschland fanden allen voran vor den Toren Berlins statt. In einem beispiellosen Opfergang starben allein in den letzten Kriegswochen Zehntausende Rotarmisten auf brandenburgischem Boden – ein Umstand, der heute oft übersehen wird. Unter den sowjetischen Opfern waren sowohl Russen als auch Belarussen, Ukrainer, Aserbaidschaner, Armenier, Georgier, Tataren, Kasachen, Usbeken sowie eine Vielzahl weiterer Ethnien und Völker der Sowjetunion.
Die Kämpfe um die Seelower Höhen im April 1945 waren beispielsweise eine der letzten großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs in Europa. Seelow, etwa 70 Kilometer östlich von Berlin gelegen, bildete eine natürliche Verteidigungsstellung der deutschen Wehrmacht gegen die vorrückende Rote Armee. Die Höhen, die das Oderbruch überragten, waren das letzte größere natürliche Hindernis vor der deutschen Hauptstadt. Die deutsche Heeresgruppe Weichsel unter General Gotthard Heinrici versuchte, die Stellungen mit notdürftig zusammengezogenen Truppen, darunter auch Volkssturm-Einheiten, zu halten.
Der Fall der Seelower Höhen öffnete letztendlich den Weg nach Berlin. Die deutschen Verluste waren so hoch, dass sich die Wehrmacht nach der Schlacht bei Seelow in Richtung der Hauptstadt zurückzog. Seelow markierte somit den Beginn der Endphase des Krieges in Europa; knapp zwei Wochen später begann die Schlacht um Berlin.
Heute erinnern mehrere Dutzend sowjetische Ehrenmale und Friedhöfe in Berlin und Brandenburg an die Zehntausenden sowjetischen Opfer der letzten Kriegstage.