Die Betonbauer haben Signaturen hinterlassen. Buchstaben, Ziffern, darunter immer wieder das Baujahr, 1964, eingeritzt in die feuchte Betonmasse. Danach verschwanden die Bodenplatten unter Schichten von Estrich und Linoleum.

Nun sind sie wieder freigelegt, frisch sandgestrahlt, ebenso wie die Wände, Stützen und Decken, beschaffen aus hellem, körnigem Beton. Er wurde in Stahlgeflechte gegossen oder in Form von Fertigteilen verbaut; an einigen Stellen ragen gebogene Eisenstücke wie Schlaufen hervor. Fahles Licht fällt durch die leeren Fensterhöhlen.

An den Wänden der langen Fluchten aus Beton tauchen immer wieder Graffiti auf. Rudi Dutschke als expressives Schwarz-Weiß-Porträt zum Beispiel, versehen mit der Widmung „Für Rudi D.“ Einige Graffiti werden bleiben. Der Beton auch. Aller Ablagerungen und Spuren von Verwahrlosung und Vandalismus entledigt, zeigt er nun seine Substanz. Demnächst beginnt die Betonsanierung, der nächste Schritt im aufwendigen Prozess einer späten Wiederbelebung.

Mehr als 30 Jahre lang vegetierte der fünfgeschossige Stahlbetonskelettbau mit Rasterfassade in einer Brache vor sich hin, an der Rummelsburger Landstraße in Berlin-Oberschöneweide. Ein verlassener Koloss im Rücken der Laubenkolonie „Am Wilhelmstrand“, die lange vor ihm da war und auch in Zukunft nichts zu befürchten hat. Zu seinen Füßen kauern weiße, bungalowähnliche Gebäude.

In einem davon befindet sich ein Tonstudio, der dazugehörige Garten mit Wohnwagen und Grill gleicht einem wilden Campingplatz. Rundum wuchernde Natur, die sich das verfallende Gebäudekonglomerat zurückholt. Wer hier umherstreunt, gerät in die 90er-Jahre zurück, in eine Zwischenwelt aus Chaos, Leere und Aufbruch. An den Rändern franst die Metropole aus, hat Löcher und Lücken. Das soll sich ändern.

Der bis auf seine Knochen bloßgelegte Bau war einst das Redaktionsgebäude des Ende 1991 abgeschalteten Berliner Rundfunks, mehr als 300 Menschen arbeiteten dort. Wohl immer stand der Plattenbauriegel im Schatten seines glamourösen, etwa zehn Jahre älteren Nachbarn: Das Funkhaus in der Nalepastraße, 1952 von Franz Ehrlich erbaut, ein denkmalgeschütztes Klinkerbauensemble, liegt direkt an der Spree und ist nach mehrmaligem Eigentümerwechsel heute in Privatbesitz. Im Inneren birgt es einen der besten Aufnahmesäle der Welt. Mit solchen Vorzügen kann der nur ein paar hundert Meter entfernt liegende Block E-R, wie das Redaktionsgebäude genannt wurde, nicht dienen. Ein Abriss aber wäre nicht infrage gekommen. Niemals. Und dies nicht nur, weil Abrisse alles andere als nachhaltig sind. „Wir versuchen immer, die Bestandsgebäude zu bewahren“, sagt Barbara Sellwig, Senior Project Manager bei Trockland.

Noch immer ein emotionaler Ort

Der in Berlin ansässige Immobilienentwickler kaufte das Areal im Jahr 2022. „Die Geschichte des Orts hilft uns, das Neue zu entwickeln. Davon abgesehen hätten wir uns sehr unwohl damit gefühlt, dieses Stück Geschichte einfach wegzunehmen, auch den Menschen wegzunehmen, die hier einmal gearbeitet haben. Sie kommen immer noch vorbei.“ Block E-R heißt nun Block E und ist Wirbelsäule eines neuen Quartiers: Funkytown. Funky von Funk, und damit ist nicht das Musikgenre gemeint, klar.

Wir sind in der vierten Etage, dem einstigen Sitz des Jugendradios DT64. Dessen von heftigem Protest begleitetes Ende dokumentierten einige der Redakteurinnen und Moderatoren selbst. Als Zeitzeugen sind manche von ihnen mit dem heutigen Eigentümer im Gespräch über einen Ort, von dem nur die Hülle geblieben ist, markiert von Protestzeichen aus unterschiedlichen Epochen. „Fuck AfD!“ gehört auch dazu.

„Es ist immer noch ein emotionaler Ort“, sagt Barbara Sellwig. Der Düsseldorfer Vorbesitzer namens Fortress Immobilien hatte für die Liegenschaft andere Pläne gehabt: Autohäuser, Waschanlagen und ähnliche für historische Industriegebiete typische Nutzungen. Doch daraus wurde nichts. Das seinerzeit beauftragte Architekturbüro KSP Engel war mit im Paket, hätte aber von Trockland herausgelöst werden können, was nicht passierte. „Wir waren uns von Anfang an sympathisch“, erzählt Hannes Meisehen, Architekt und Berliner Büroleiter von KSP Engel.

Nun hat KSP Engel als Entwurfsverfasser des Städtebaus die Masterplanung für das neue Quartier inne. Auf der Brache werden acht neue Bauten errichtet, die sogenannten „Stations“, jede entworfen von einem anderen Berliner Architekturbüro. Engagiert hat sie Trockland selbst. Vor ein paar Wochen wurden die „Stations“ unter Aufsicht der Hausjuristen unter den eingeladenen Büros verlost.

Ende April werden sie ihre Fassadenentwürfe vorstellen: Julian Breinersdorfer, Graft Architekten, Grüntuch Ernst Architekten, Thomas Hillig Architekten, LAVA, LXSY, Tschoban Voss Architekten und KSP Engel Berlin sind dabei. Um die Sanierung des Bestandsgebäudes kümmert sich die Leipziger Dependance des Planungs- und Architekturunternehmens AIP, um die Statik das Leipziger Ingenieursbüro Lux. „Beide haben sich intensiv mit der Bauweise in der DDR auseinandergesetzt“, sagt Barbara Sellwig.

Wir gehen die originale Betonwerksteintreppe hinunter Richtung Brache, die an die Rummelsburger Landstraße grenzt. Barbara Sellwig weist auf einen abgedeckten Hohlraum im Boden hin. Ausstiegsluke eines Fluchttunnels, der Block E-R durchzog, Schutzmaßnahme gegen Angriffe des imperialistischen Feindes. Auch der Abstand zur Straße war der permanenten Alarmbereitschaft geschuldet. Von der gekachelten „Sockelklause“, der hauseigenen Kneipe im Keller, ist nichts mehr übrig, auch nicht von den beiden Paternostern. Es wird neue Aufzüge geben, einen für jede Mieteinheit.

Die 1600 Quadratmeter Fläche pro Geschoss werden in Einheiten von maximal 400 Quadratmetern unterteilt, aus Brandschutzgründen. Die Hälfte der Einheiten ist bereits vermietet: Eine soziale Beratungseinrichtung ist dabei, eine Physiotherapie-Praxis, mit einer Hundetagesstätte im Erd- und im Untergeschoss und mit weiteren Mietinteressenten ist Trockland in Verhandlung. Gastronomie wird es geben, auf dem Dach und im Erdgeschoss, außerdem Werkstätten und Ateliers. Der gesamte Komplex einschließlich der Neubauten umfasst 50.000 Quadratmeter Fläche und soll bis 2028 fertiggestellt werden.

Ortswechsel: Der weiße Baucontainer am Rand des Geländes ist vorgeheizt, Visualisierungen der zukünftigen Funkytown hängen an den Wänden. Der Gegensatz zwischen Jetzt-Zustand und der imaginierten Zukunftswelt könnte kaum größer sein: eine Dachterrasse mit Holzdielen, in warmes Licht getaucht, ausladende Polsterlandschaften im Betongehäuse. Junge Menschen in entspannter Geschäftigkeit.

Auf dem Dach leuchtet in großen Buchstaben der Schriftzug „THE NEXT EPISODE“. Vor mehr als 30 Jahren stand „DEUTSCHER DEMOKRATISCHER RUNDFUNK“ an fast derselben Stelle, auch das Wappentier des Rundfunks Berlin, der bekrönte Berliner Bär, thronte weithin sichtbar auf dem Dach. Später landete das Symbol achtlos im Gestrüpp, ausrangiert. Die Bilder überlagern einander.

An Leben soll es hier nicht mangeln

Bunt wie Teilstücke einer Tortengrafik sind die „Stations“ auf den Visualisierungen. Mal mehr, mal weniger trapezförmig bilden sie eine luftige Zeile zwischen Bestandsgebäude und Straße. Nicht alle sind gleich hoch, so entsteht eine leichte Welle. Die Farben gehören zur Marke, mit den tatsächlichen Bauten haben sie nichts zu tun. Die Form aber ist vorgegeben, sie entstand im Austausch mit dem Bezirk über die Grundstücksaufteilung. Auf keinen Fall sollten die Neubauten den Bestand überragen.

Wie aber auf einen Block reagieren, ohne ihm einfach einen weiteren Block vor die Nase zu setzen? Hannes Meisehen verwendet das Bild eines in Stücke zerteilten Baguettes: „Architekten arbeiten in der Konzeptionsphase immer gern mit Analogien.“ Zwischen den einzelnen „Stations“ wird es Zwischenräume geben, Wege.

Damit verändert sich auch der Blick auf das Bestandsgebäude. „Wir durchschneiden den Block durch die Sichtachsen. Damit wollen wir Beziehungen entstehen lassen, auch die zum Funkhaus“, so Meisehen. Planer sprechen von „Durchwegung“, es geht darum, Verbindungen zu schaffen. Ein Innen und Außen gibt es dabei nicht. Das gesamte Areal ist frei zugänglich. „Wir lehnen Gated Communitys ab“, sagt Barbara Sellwig.

Doch wie wird die Community beschaffen sein, die Funkytown belebt? Wohnungen wird es hier nicht geben, das sieht der Bebauungsplan nicht vor. Zudem entstanden auf der anderen Seite der Rummelsburger Landstraße in den vergangenen Jahren größere Wohnquartiere. In drei „Stations“ wird es „Beherbergung“ geben, und das gleich in drei unterschiedlichen Varianten: Als Hostel, als Hotel, und als Serviced Apartments für Gäste, die höchstens drei Monate bleiben. Auch in Verbindung mit dem regen Veranstaltungs-, Lehr- und Konzertbetrieb im nahen Funkhaus Berlin wird es dadurch abends nicht unheimlich still sein in Funkytown. Zumal in Zukunft eine Elektrofähre zwischen dem Anleger am Funkhaus und der Eastside Gallery pendeln wird.

Das Wasser so nah – warum eigentlich wird die Spree als Straße immer vergessen? Rotterdam, Hamburg, Venedig! Alles Vorbilder, die am großen Tisch im Container in die Runde geworfen werden. Bei Trockland gibt es ein Ruderteam, erzählt Barbara Sellwig. „Mindestens einmal in der Woche rudern wir an unserem Projekt vorbei.“