Samstag, 18. Mai 2024, Berliner Zeitung
Die innere Zeitenwende
Die liberalen Kräfte betreiben schon heute das Geschäft der Rechten. Die Atmosphäre in Deutschland wird immer martialischer

Ingar Solty
Alternative gegen Deutschland“ titelte der Spiegel mit Bezug auf Zahlungen, die der AfD-Europa-Spitzenkandidat Maximilian Krah aus China erhalten haben soll: Wer als liberaler Antifaschist glaubt, es sei heute ein besonders cleverer Schachzug, den Begriff des „Landesverrats“ gegen eine rechtsautoritäre Partei zu wenden, die behauptet, nationale Interessen zu verfolgen, der wird sich morgen wundern, dass er damit diese illiberale und nationalistische Rhetorik wieder in der politischen Kultur etabliert haben wird.
Die vom Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete „Zeitenwende“ ist eine solche auch dem Inhalt nach. Sie wendet die Zeit, aber nicht in eine goldene Zukunft; sie dreht die Uhr zurück in die düstere deutsche Vergangenheit. Bei der inneren Zeitenwende geht es zurück in eine Zeit der Soldatendenkmäler, damit eine „glückssüchtige Gesellschaft“ (Joachim Gauck) wieder lerne, die im Kampf fürs Vaterland am Hindukusch Gefallenen zu verehren. Es geht zurück in die Zeit der „Pflichtjahre“, mit der dieselben Leute, die mit der „Agenda 2010“ einst Sprengsätze an den sozialen Zusammenhalt legten, heute wieder „Gemeinsinn stärken“ wollen und vergessen, dass es das „Pflichtjahr“ in der deutschen Geschichte schon einmal gab und wann und zu welchem Zweck.
Jugendoffiziere als „Karriereberater“
Bei der inneren Zeitenwende geht es weiter um den Wiedereinbruch des Militärischen in die Schulen, wo die Kinder nach Ansicht der Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) im Sinne eines „unverkrampften Verhältnisses zur Bundeswehr“ und für „unsere Widerstandsfähigkeit“ zusammen mit Soldaten den Kriegsfall üben sollen, und wo Jugendoffiziere als „Karriereberater“ auf die Schüler losgelassen werden, um mit den aktuellen Rekordzahlen an Minderjährigen im Kriegsdienst die Rekrutierungsprobleme der Armee zu lösen. Aber klar, die angeworbenen Ausländer sind ausgeblieben. Die Abbrecherquote bei der Grundausbildung ist eklatant hoch, weil die Realität beim Kommiss wenig mit dem Bild zu tun hat, das die Armeewerbung an Straßenbahnen, Bushaltestellen und auf YouTube verspricht: Kameradschaft, Rumschrauben an geilen Karren, Krieg als Gaming, Weltrettung, Lebenssinn.
Aber neue Soldaten müssen her, angesichts der nachträglichen Rekordverweigerungen bei Reservisten, deren Lust, sich fürs Vaterland zusammenschießen zu lassen, gering ist – untertroffen nur noch von den Anhängern der Grünen, die zwar stabil Waffen und Kriegsdienst für andere fordern, aber von denen nach einer Forsa-Umfrage nur neun Prozent bereit wären, Deutschland auch persönlich zu verteidigen.
Die innere Zeitenwende bringt das Militärische auch an die Universitäten zurück, wo Regierung und konservative Opposition gegen das Friedensgebot im Grundgesetz verstoßen und die Zivilklauseln aushebeln wollen, die es als Lehre aus Faschismus und Weltkrieg bislang verboten, Forschung und Wissenschaft in den Dienst der Rüstungskonzerne zu stellen.
Innere Zeitenwende meint auch die Rückkehr der Unterscheidung von „Gut“ (wir, na klar!) und „Böse“ (die anderen, wer sonst?). Es ist die Rückkehr der „Erbfeinde“ (heute Russland und China) und der „Bürde des weißen Mannes“ zur Zivilisierung der Barbaren, die wieder am deutschen Wesen genesen sollen und sich – so jüngst Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament, mit Blick auf China – „einfach von uns so verwandeln lassen“ müssen, „dass am Ende dann etwas rauskommt, was einfach den Vorstellungen entspricht, die man von uns über das Land und darüber“ hat, „wie die Welt insgesamt organisiert sein soll“.
Die innere Zeitenwende ist auch die Rückkehr des ostentativen Unwillens, in Kontexten und Kausalzusammenhängen zu denken und dabei auch die Perspektive der „Feinde“ einzunehmen; ja, es ist die Rückkehr der medialen Ächtung des bloßen Versuchs, es zu tun. Innere Zeitenwende bedeutet die Rückkehr der „vaterlandslosen Gesellen“, die als „fünfte Kolonne“ des Feindes bezeichnet und vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit mit illiberaler Justiz und Polizeigewalt abgehalten werden, während für die Feinde von außen autoritäre Einreise- und Sprechverbote erteilt werden.
Längst gelten wieder Berufsverbote für die „inneren Feinde“, die man, wie in Brandenburg, durch Gesinnungsprüfungen vom öffentlichen Dienst fernhält. Oder sie sollen, sofern sie als Migranten sich nicht zur Staatsräson einer bedingungslosen Unterstützung des israelischen Staates bekennen, egal, welche rechtsextremen Kräfte ihn gerade regieren und welche KI-gesteuerten Kriegsverbrechen er gerade begeht, nicht nur keine Staatsbürgerschaft erhalten, wie dies der Bundestag mit den Stimmen der Ampel beschlossen hat, sondern man will sie ihnen sogar bis zu zehn Jahre rückwirkend entziehen. Dies forderten der Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und die Sozialdemokraten gegenüber Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft.
Die „innere Zeitwende“ rehabilitiert in einer Weise Begriffe, Sprache, Politikstile und Mittel der nationalistischen und autoritären Rechten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dass es dafür einer AfD gar nicht bedarf. Zurück ist die „nationale Sicherheit“, in deren Namen internationales (Investitions- und Handels-)Recht und das Völkerrecht gebrochen wird.
Wieder da sind „Staatsräson“, „Autarkie“, die heute „De-Risking“ heißt, Hochrüstung und die Aufforderung zur „Kriegstüchtigkeit“, denn sonst steht, na klar, „in fünf bis acht Jahren“ der Russe bei dir im Keller. Wieder wird vor „Kriegsmüdigkeit“ im Volk gewarnt, finden öffentliche Gelöbnisse vor Landesparlamenten statt und markiert die „neue Lust auf Helden“ die Rückkehr des „heroischen Denkens“, das über den – an Verdun und den Ersten Weltkrieg gemahnenden und nicht zu gewinnenden – Stellungs- und Abnutzungskrieg in der Ukraine sagt: „das Gemetzel ist notwendig“.
Entstanden ist ein neuer Gewaltkult, der – vollkommen geschichtsvergessen – nach innen nie zuvor gesehene Ausmaße der Gewalt von Jugendlichen mit Silvesterböllern beklagt, während er nach außen selbst nur noch die Sprache der Gewalt vorlebt und ausschließlich die Logik des Militärischen kennt.
Es braucht gar keine Nazis, um „Veteranentag“ und Heldendenkmäler einzuführen. Und es bedurfte auch keiner Faschisten für den beispiellosen Geschichtsrevisionismus und die monströse Holocaustrelativierung, die Wladimir Putin mit Hitler gleichsetzt und den völkerrechtswidrigen Krieg Russlands in der Ukraine mit Nazideutschlands Vernichtungskrieg im Osten, dessen Ziel im Rahmen des „Generalplan Ost“ die Versklavung der Ostvölker und Vernichtung ihrer gesamten gesellschaftlichen Elite – wenigstens 30 Millionen Menschen – durch systematische Massaker an Unbewaffneten („Kommissarbefehl“) und systematisches Verhungernlassen (wie während der Leningrad-Blockade mit mehr als einer Million Ziviltoten) war und aus dem sich auch der Plan zum Holocaust ergab.
Es sind Liberale, für die es neue Normalität ist, ihre Gegner als „Lumpenpazifisten“, „gewissenlose“ „Unterwerfungspazifisten“ oder gleich als „Putins willige Helfer“, „Totengräberinnen der Ukraine“ und „Secondhand-Kriegsverbrecher“ zu bezeichnen. Es sind Liberale, die jetzt schon fordern, der „Pazifismus darf nicht wieder auferstehen“. Für all das braucht es keine extreme Rechte. Dieselben Leute, die heute die Konservativen davor warnen, als Lehre aus 1933 ja nicht die „Brandmauer“ einzureißen, während sie, wie Ursula von der Leyen, in Europa die „Post-Faschistin“ Meloni küssen, wo sie sie treffen, bemerken gar nicht den Flammenwerfer in der eigenen Hand, mit dem sie das Land längst angezündet haben.
Die Grünen warnen vor Kriegsmüdigkeit
Dabei muss auffallen, dass nicht nur „Stahlhelm“-Konservative, sondern gerade das „linke“ Bürgertum die innere Zeitenwende forciert. Sicher, es war der CDU-Außenminister im Wartestand, Roderich Kiesewetter, der vor wenigen Wochen forderte, dass der „Krieg nach Russland getragen werden“ müsse und man „alles tun“ sollte, dort Ministerien zu zerstören. „Kriegstüchtigkeit“ aber forderte ein sozialdemokratischer „Verteidigungsminister“. Bei den Forderungen nach weiteren 100, 200, 300 Milliarden Euro für die Bundeswehr bei gleichzeitigen Sozialkürzungen war Kiesewetter bloß das Echo der SPD-Politiker Scholz, Eva Högl und Pistorius. Vor „Kriegsmüdigkeit“ wiederum warnte eine grüne Außenministerin, die sich längst „im Krieg mit Russland“ wähnt.
Es war die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die auf die Frage, ob sie denn gedient habe, antwortete, sie sei „gut für den Volkssturm“. Und „Waffen, Waffen und nochmals Waffen“ forderte Anton Hofreiter (Grüne), der auch systematisches Aushungern wieder zum Prinzip deutscher Machtpolitik machen will. Als Beispiel für die von ihm markig geforderte Außenpolitik, die endlich wieder „mit dem Colt auf dem Tisch verhandel(t)“, schlug er im Dezember 2022 vor, mit der Kornkammer Ukraine am Wickel zukünftig 1,4 Milliarden Chinesen offen den Hungertod anzudrohen: „Wenn uns ein Land Seltene Erden vorenthalten würde, könnten wir entgegnen: Was wollt ihr eigentlich essen?“.
Es ist das linksliberale Bürgertum, das heute öffentlichkeitswirksam seine Geisteshaltung korrigiert und den Fahneneid auf die Nation in Waffen schwört, als wäre es noch einmal 1914. Die Liste derjenigen, die ihre Wehrdienstverweigerung symbolisch zurückzogen, ist lang. Sie reicht von Scholz und Habeck über gealterte Journalisten und Schriftsteller wie Ralf Bönt, den Stern-Redakteur Thomas Krause und den Taz-Redakteur Tobias Rapp bis zu Bischof Gohl, Wigald Boning und Campino. Dabei war es nur folgerichtig, dass Rapp als Mitherausgeber der„linksradikalen“ Jungle World jüngst im Spiegel auch den „Veteranentag“ begrüßte, als Anerkennung: Das Töten „war nicht sinnlos“.
Theodor W. Adorno schrieb einmal, er habe weniger Angst vor der extremen Rechten als vor der rechten Radikalisierung der „Mitte“, vor der Rückkehr des Nationalistischen, Autoritären und Faschistischen in der Sprache der Demokratie. Wer glaubt, die Rechte am besten mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, der betreibt ihr eigentliches Geschäft. Kurzfristig mögen die Umfragewerte der AfD in Folge der Skandalisierung ihrer Machenschaften heruntergehen. Langfristig kann man sich in der AfD zurücklehnen, weil man weiß: „Rechts wirkt“. Das Land rast mit atemberaubendem Tempo in eine rechte Vergangenheit; aber im Führerstand stehen nicht Björn Höcke und Maximilian Krah, sondern die Liberalen selbst.