Robert Habeck befindet sich im Krieg. Mitte April, bei noch niedrigen einstelligen Temperaturen, ist der grüne Bundeswirtschaftsminister zum insgesamt dritten Mal in die kriegsgebeutelte Ukraine gereist. Die Bilder des 54-Jährigen aus dem Schutzkeller in der ukrainischen Hauptstadt gehen viral – Ukrainebesuche deutscher Politiker sind allerdings nach mehr als zwei Jahren Krieg eher Alltag als Ausnahme.

„Solidarität mit der Ukraine“, heißt es in Behörden, Ministerien und Parteien der Mitte. Doch Habecks Reise speist sich nicht nur aus einer intrinsischen Kameradschaftlichkeit zum politischen Kiew. Es geht auch um deutsche Interessen, um die deutsche Wirtschaft und ihre Wehrfähigkeit. Wenn man hinschaut, hat der Krieg der hiesigen Wirtschaft geschadet. Doch eine Branche ist im Aufwind: die deutsche Waffenindustrie.

„Der Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, ist heute für einen Besuch in der Ukraine eingetroffen. Dort führt er politische Gespräche und trifft Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft“, heißt es im Behördendeutsch auf der Webseite des Bundeswirtschaftsministeriums im April. Dazu schreiben dutzende Medien auffallend zurückhaltend und kryptisch, der Minister werde von einer „Wirtschaftsdelegation“ begleitet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht offener über das Treffen. „Es ist wichtig, die Luftabwehr unseres Landes mit modernen Systemen westlicher Produktion weiter zu stärken“, schreibt er auf X. Er habe gemeinsam mit der Delegation aus Berlin über die „gemeinsamen Anstrengungen“ im Wirtschaftsbereich gesprochen. Dann verlautbart er: „Wir haben vereinbart, uns auf den militärisch-industriellen Komplex zu konzentrieren.“

Statt in den – in Anbetracht der militärischen Vorstöße der Russen im Osten der Ukraine eher fernen – zivilen Wiederaufbau des EU-Beitrittskandidaten zu investieren, werden deutsche Steuergelder also verstärkt in deutsch-ukrainische Waffenprojekte fließen. Und dabei sind gewiss nicht Kurzzeitprojekte wie eine Tranche Munition oder eine Handvoll Leopard-2-Panzer gemeint. Es geht um längerfristige Kooperationen in der Waffen- und Munitionsproduktion, in hochtechnologischen Verteidigungssystemen, in der Cybersicherheit, so Branchenkenner in Hintergrundgesprächen. Dabei fällt immer wieder der Begriff des „militärisch-industriellen Komplexes“.

Der militärisch-industrielle Komplex

Doch was bedeutet dieser Begriff, der in der sicherheitspolitischen Literatur eher im amerikanischen oder russischsprachigen Raum zu verorten ist? Der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower warnte in einer Rede 1961 erstmals vor dem „militärisch-industriellen Komplex“, kurz MIK, der mit dem Kalten Krieg herangewachsen sei. Der MIK ist die Verknüpfung und gegenseitige Interessenverbindung zwischen Politikern, Militärs und Vertretern der Rüstungsindustrie. Später wurden in gesellschaftskritischen Analysen auch Militärinstitute und Denkfabriken aufgenommen. Der MIK ist also eine Art militärpolitisches Fundament für höhere Rüstungsausgaben.

Ein solcher militärisch-industrieller Komplex soll nach den Wünschen Robert Habecks und der Rüstungsbranche nun auch in Deutschland allumfassend aufgebaut werden. Wer sich dagegen positioniert, sei „aus der Zeit gefallen“, so der Tenor. Man kann es den Akteuren im Waffenbusiness auch nicht verübeln, denn alle Seiten profitieren: Die politischen Entscheidungsträger bekommen Waffen, die Industrie findet neue Absatzmärkte, die Ukraine erhält dringend benötigte militärische Unterstützung, während Militärexperten ihre Daseinsberechtigung bestätigt sehen. Eine Win-win-win-Situation.

Obgleich Militärs und ihre Berater den MIK-Begriff teilweise ablehnen, wissen auch sie, dass die gesamtgesellschaftlichen Anstrengungen in der Verteidigungspolitik in Berlin, Paris und Brüssel zum Thema Nummer eins geworden sind. Die Europäische Kommission schlägt beispielsweise vor, über eine Milliarde Euro auszugeben, um den EU-Mitgliedsstaaten Anreize zu schaffen, primär bei europäischen Unternehmen einzukaufen und nicht außerhalb Europas. Die Rüstungsindustrie soll hingegen ermutigt werden, neue Technologien zu entwickeln und die eigenen Kapazitäten weiter zu erhöhen.

An genau diesem Aufbau militärisch relevanter Produktionskapazitäten wollen deutsche Rüstungsunternehmen teilhaben. Vielmehr noch: Während Deutschland in diesem Sommer Fußball-Europameister werden will, haben sich ein Großteil des Politikestablishments, Militärs und ihre Berater das Ziel gesetzt, in wenigen Jahren Waffenexport-Europameister zu werden. In Branchenkreisen sagt man deshalb voraus, dass der Ausbau jener Produktionsstätten bis zu vier Jahre dauern werde.

Im weltweiten Vergleich zeigt sich jedoch, dass die militärisch-industriellen Bestrebungen Deutschlands noch in den Kinderschuhen stecken. Dazu zwei Vergleiche: Laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri liegen die USA mit 42 Prozent aller weltweiten Waffenexporte fast konkurrenzlos vorne; Deutschland liegt bei knapp über fünf Prozent. Und auch die Umsätze von amerikanischen Rüstungskonzernen wie Raytheon oder Lockheed Martin liegen für hiesige Firmen wie Rheinmetall und Thyssenkrupp außer Reichweite.

Auch Russland spielt militärisch in einer anderen Liga als die Bundesrepublik. Dort lag der Anteil der weltweiten Waffenexporte bei elf Prozent – Russland teilt sich mit den Franzosen den zweiten Platz. Hinzu kommen die für die Waffenproduktion großen territorialen Vorteile des geografisch größten Landes der Erde sowie der gesellschaftspolitische „Freifahrtschein“ unter dem Vorzeichen der Kriegsindustrie und eines Krieges, der für die Russen existenziell erscheint. Nicht zu vergessen: Das nukleare Arsenal mit knapp unter 5900 Atomsprengköpfen. Deutschland hat im Vergleich dazu keine Atomwaffen – kann sich jedoch, Stand Mai 2024, auf die westlichen Nuklearmächte verlassen.

Doch schauen wir zunächst zurück auf Habecks bisherige Ukrainepolitik. Bevor der Grünenpolitiker – mit eher wenigen Vertretern von Rüstungsunternehmen wie Diehl Defence, Quantum Systems oder Global Clearance Solutions – im April in die Ukraine reiste, kam es Ende März im Wirtschaftsministerium zu einem noch viel brisanteren Auftakttreffen. Geschäftsführer und ranghohe Gesandte, quasi die Crème de la Crème deutscher Rüstungsunternehmen, diskutierten an einem Tisch mit Habeck über „Fragen der nationalen und europäischen Sicherheit und Wehrhaftigkeit“. Das politische Gebot der Stunde sei es, „sicherheitsfähig“ zu werden, so der Tenor. Die Weltbedrohungslage habe sich geändert, sie nicht zu reflektieren sei naiv, so Habeck. Deshalb solle, so der grüne Vizekanzler, die Waffenproduktion hochgefahren werden. Im Kern allerdings, so heißt es aus Branchenkreisen, sei es bei dem Treffen mit führenden Rüstungsunternehmen um die militärische Unterstützung der Ukraine gegangen. Mit dabei waren laut Bild auf jeden Fall zwölf Unternehmen, darunter: Airbus Defense and Space, die militärische Luftsysteme und Drohnen herstellen; Airbus Helicopters; Rheinmetall, bekannt für die Wartung und Instandsetzung von Panzern; Thyssenkrupp Marine Systems, die Technologien für nichtnuklear angetriebene U-Boote und Marineschiffe herstellen; die Renk AG baut Antriebstechniken für militärische Landfahrzeuge; Helsing, ein Unternehmen, das KI im Verteidigungssektor nutzt; der Softwaregigant Palantir; die Funktechnikspezialisten Rhode und Schwarz; die Drohnenhersteller von Quantum Systems; Schiffbauer von Naval Vessels Lürssen; Raketenbauer von Diehl Defence und das Unternehmen Hensoldt, das sich auf militärische Technologien spezialisiert hat.

Wie das Handelsblatt berichtete, waren auch das Kanzleramt, das Auswärtige Amt und Staatssekretäre aus Verteidigungs- und Finanzministerium beim Treffen zugegen. Man wolle die sicherheitspolitische Lage in Anbetracht des Ukrainekrieges um eine industriepolitische Komponente bereichern. In anderen Worten: In Deutschland soll auf lange Sicht ein bedeutender militärisch-industrieller Komplex aufgebaut werden.

Für ein solches Unterfangen haben Rheinmetall, Diehl und Co. allerdings ihre ganz eigene Wunschliste mitgebracht: Wie gestaltet sich für die Unternehmen die Planungssicherheit? Schließlich bestehen die Firmen auf zuverlässige Abnehmer ihrer Rüstungsprodukte. Was kann die Bundesregierung zur Verfahrensbeschleunigung tun? Hier nimmt sich die Rüstungsbranche laut Handelsblatt das Tempo beim Bau neuer Terminals für LNG-Gas als Vorbild.

Zentral war auch die Finanzierungsfrage: Wie kann man Anreize bei Investoren schaffen und was passiert mit der Schuldenbremse? Wird es zu einem zweiten Sondervermögen kommen? „Nach den aktuellen Planungen werden die Mittel aus dem Sondervermögen bis Ende 2027 aufgebraucht sein. Ab 2028 sind die Verteidigungsausgaben folglich wieder insgesamt aus dem Kernhaushalt bereitzustellen“, schreibt eine Sprecherin aus dem FDP-geführten Finanzministerium auf Anfrage. Außerdem wurden Kapazitätsfragen in der Ukraine besprochen – was ist für Kiew möglich? Was müsse in anderen osteuropäischen Partnerländern entstehen? Wie kann die Kooperation zwischen deutschen, europäischen und ukrainischen Firmen verbessert werden?

Die Unternehmen hierzulande, die für die Ukraine Waffen herstellen, äußern sich ungern oder nur verhalten öffentlich zu ihren Geschäften. Dabei ist die Sparte von hoher volkswirtschaftlicher Relevanz in Deutschland: Mehr als 130.000 Menschen sind in der Rüstungsbranche tätig, 30 Milliarden Euro Umsatz werden erwirtschaftet, Rüstungsaktien an der Börse seien in heutigen Zeiten „eine sichere Bank“.

„Mit umfangreichen Lieferungen und Unterstützungsleistungen für die Ukraine ist Rheinmetall inzwischen der wichtigste rüstungsindustrielle Partner des Landes bei seinem Abwehrkampf gegen die russische Aggression“, heißt es etwa auf der Website des Konzerns, der bei der Waffenproduktion vorne mitspielt. Mit der staatlich-ukrainischen Rüstungsvereinigung Ukroboronprom hat man deshalb im Oktober 2023 ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet: Rheinmetall Ukrainian Defense Industry.

Branchenkenner sagen ganz unverblümt, dass mit dem Ukrainekrieg das Geschäftsfeld der Waffenindustrie in neue Dimensionen vorgestoßen sei: Der massive Ausbau von Fabriken könnte sich für die vielen nord-, west- und süddeutschen Unternehmen auszahlen: niedrige Produktionskosten gepaart mit einer steten Nachfrage.

Ähnlich sehen die Ambitionen in den anderen deutschen Unternehmen aus: Quantum Systems, ein Hersteller von Drohnen mit Sitz in Gilching bei München, sucht aktiv nach neuen Mitarbeitern in der Ukraine. Bei Habecks Ukrainereise im April weihte der Quantum-Systems-Chef Florian Seibel vor den Toren Kiews ein neues Werk ein. Bis Ende des Jahres sollen rund 100 Mitarbeiter beschäftigt werden; darüber hinaus will Quantum Systems in den nächsten zwei Jahren bis zu sechs Millionen Euro in das Ukrainegeschäft investieren.

Die Sensorenspezialisten von Hensoldt, ein weiteres Unternehmen aus dem Münchner Landkreis, liefern Hochleistungsradare für die Luftverteidigung der Ukraine. „Wir sehen in der Ukraine, wie wichtig es ist, zuverlässig und in hoher Geschwindigkeit aus Daten Informationen zu gewinnen, die zur Informationsüberlegenheit auf dem Gefechtsfeld beitragen“, schreibt ein Sprecher auf Anfrage. Dabei ist die Ukraine mit einer Bestellung von 26 Hensoldt-Radaren TRML-4D der weltweit größte Betreiber dieses Systems. „Die Technologie von Hensoldt rettet hier jeden Tag Leben und schützt die Einwohner von Kiew, Odessa und anderen Städten“, so das Unternehmen.

Andere Unternehmen wie etwa die Renk AG oder Helsing wollen sich über geschäftliche Beziehungen oder zu ihren Kunden nicht öffentlich äußern. Einige wenige Unternehmen waren lediglich bereit, sogenannte Hintergrundgespräche zu führen.

Mit dem Wiederaufbau der Ukraine lässt sich Geld verdienen. Da sind sich Politiker, Militärs und Unternehmer einig. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von einem Marshallplan für die Ukraine; Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wirbt für „eine Generationenaufgabe, die jetzt beginnen“ müsse. Selenskyj sagte in einer Videoansprache, die Rekonstruktion der Ukraine werde das „größte Wirtschaftsprojekt unserer Zeit“ in Europa. Er rechnet mit bis zu einer Billion US-Dollar – so viel soll der Wiederaufbau in den kommenden Dekaden kosten. Solche Summen ziehen viele Interessierte an. Waffenlobbyisten sagen hinter vorgehaltener Hand: In der Ukraine seien „gigantische Geschäftsmöglichkeiten“ gegeben.

In erster Linie treibe die Rüstungsunternehmen ein – rein ökonomisch logisches – „kommerzielles Interesse“ an, um in der Ukraine Waffengeschäften nachzugehen, sagt Severin Pleyer. Der wissenschaftliche Mitarbeiter von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg erklärt jedoch auch, dass die Unternehmen auf „Wunsch der Bundesregierung“ und ihrer Unterstützungspolitik für die Ukraine verstärkt im osteuropäischen Land agieren.

Im Zusammenspiel aus Politik und Industrie nimmt Habeck eine wichtige Rolle ein: „Das Bundeswirtschaftsministerium ist das zentrale Ministerium, das über die Anträge zur Ausfuhr von Kriegswaffen entscheidet“, so Pleyer. „Reisen wie diese von Minister Habeck verleihen der politischen Absicht der Regierung Nachdruck, die Ukraine in ihrer Verteidigungsfähigkeit zu ertüchtigen.“

So hat sich Habeck zum Wortführer der deutschen Rüstungsindustrie gemausert. Unter dem Leitwort der ausgerufenen „Zeitenwende“ sollen nämlich sämtliche Arbeitsbereiche der Ukraine-Unterstützung untergeordnet werden. In den Fluren des Wirtschaftsministeriums hört man sogar, dass wichtige Aufgabenfelder im Nahen Osten oder in Nordafrika kaum noch eine Rolle spielen würden. Nach der überhasteten Suche nach Gas- und Ölalternativen, kurz nach Beginn des Krieges vor über zwei Jahren, genieße das Rüstungsgeschäft in der Ukraine zurzeit die mit Abstand höchste Priorität.

Dabei ist es kein Geheimnis, dass die militärischen Hilfsmaßnahmen zu einer Hochkonjunktur für die deutsche Waffenindustrie führen. Denn ein Großteil der 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen gehen nicht in die Ukraine, sondern in Aufträge an die Rüstungsbranche. Allerdings sei das Geschäft zwischen dem politischen Kiew und der hiesigen Industrie keine Einbahnstraße, sagt der ukrainische Militärexperte Oleksiy Melnyk. Der Fachmann vom Razumkov-Zentrum, einem Kiewer Think-Tank, kündigt zwischen Berlin und Kiew eine langjährige Partnerschaft im Waffensektor an: „Es ist ein weltweiter Trend, dass erfolgreiche Produktionsfirmen sich internationalen Kooperationen anschließen.“ Melnyk sagt, dass der Deal zwischen Rheinmetall und Ukroboronprom als ein Paradebeispiel für viele weitere deutsch-ukrainische Rüstungskooperationen dienen wird.

Melnyk verweist auf den erst kürzlich erschienenen Sipri-Bericht. Die Ukraine war 2023 der weltweit größte Waffenimporteur. Die meisten Militärpakete bekam Kiew im Zeitraum von 2019 bis 2023 aus den USA (39 Prozent), gefolgt von Deutschland (14 Prozent) und Polen (13 Prozent).

Rheinmetall, Thyssenkrupp, Diehl und Co. können sich laut Melnyk zudem auf weitere günstige Grundvoraussetzungen in der Ukraine freuen. „Auch wenn die Zeiten, in denen wir die Waffenkammer der Sowjetunion waren und Interkontinentalraketen und Gefechtsfahrzeuge en masse hergestellt wurden, längst vorbei sind, so haben wir – historisch bedingt aus Sowjetzeiten – mit die weltweit besten Ingenieure, Mechaniker und Techniker hervorgebracht“. Und eben diese Berufsposten werden von den Unternehmen massiv gesucht, wie ein Blick in die Stellenangebote bei Quantum Systems zeigt. Zudem seien die Ukrainer schlichtweg günstigere Arbeitskräfte als beispielsweise Produktionsstandorte in anderen osteuropäischen Ländern.

„Nimmt man jedoch all die gutgemeinten Aussagen und Solidaritätsbekundungen zur Seite, dann ist die Ukraine für die deutsche Rüstungsbranche natürlich eine Art Testfeld“, sagt Melnyk. „Welche Systeme funktionieren? Was können wir vom Markt nehmen? Was brauchen die Geschäftspartner? Nach welchem Tier benennen wir unser nächstes Produkt?“, seien die Fragen, die unternehmensintern gestellt werden.

Im Interview mit der Berliner Zeitung äußerte sich auch der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, zur Rüstungskooperationen: „Die Ukraine war vor dem Krieg immer unter den Top 15 der Rüstungsexporteure. Deutschland hat ebenfalls hervorragende Kapazitäten. Wir könnten diese Synergien nutzen, um Weltspitze zu werden und modernste Waffensysteme gemeinsam herzustellen.“ Einerseits müsse, so Melnyk, die Ukraine massiv aufgerüstet werden, um genug Abschreckungspotenzial zu schaffen und somit neue Aggressionen Russlands zu verhindern. Andererseits könnten die Ukraine und Deutschland gemeinsam die gesamte Welt mit den besten Panzern und anderen Waffen beliefern. „Das würde sowohl den strategischen Interessen unserer beiden Länder entsprechen als auch der deutschen Rüstungsindustrie einen riesigen Schub geben.“

Der Militärexperte Oleksiy Melnyk sagt zudem, die Ukraine habe in der jetzigen Lage keine andere Wahl, als eine Art Testfeld für die neueste Militärtechnik zu sein. Der akute Soldatenmangel, der zermürbende russische Bomben- und Drohnenterror in frontnahen Städten und Siedlungen, die Kriegsmüdigkeit unter Ukrainern: Je stärker die Ukraine in Rüstungsfragen mit Deutschland – aber auch mit anderen Partnern wie den USA, der Türkei oder Frankreich – zusammenarbeitet, desto unabhängiger fühle man sich. Unabhängiger von Russland. Für sicherheitstheoretische und philosophische Debatten, ob mehr Waffen auch automatisch mehr Kriege bedeuten, habe die Ukraine laut Melnyk derzeit keine Kapazitäten.

Habeck und die Grünen, deren Laufbahn sich ursprünglich aus einem pazifistischen Grundkonsens definierte, sind derweil nach mehr als 800 Tagen Krieg europaweit zu den unangefochtenen Wortführern verstärkter Waffenlieferungen avanciert. Die Wählerklientel unterstützt das – es sind schließlich die Grünenwähler, die in Umfragen am stärksten immer mehr und immer größere Waffen für die Ukraine befürworten.

Dabei passen die Klimaziele und ambitionierte Rüstungsprojekte nur schwer zusammen. Der Kampfpanzer Leopard-2 verbraucht auf 100 km etwa 530 Liter Diesel – so viel wie 100 Kleinwagen. Raketen, Panzer und Kampfjets belasten das Klima erheblich. Doch im Pariser Klimaabkommen tauchen die Waffen nicht auf. Zudem gibt es für die Rüstungsindustrie keine Berichtspflicht für militärische Treibhausgasemissionen. Es ist deshalb schwierig, die Mengen an CO2 zu bestimmen, die die Rüstungsbranche verursacht. Konzerne und Staaten argumentieren mit der „nationalen Sicherheit“. Wie soll Habeck, der ja auch Klimaminister ist, diesen Spagat nur schaffen?

Es bleiben viele weitere offene Fragen. Die deutsche Rüstungsindustrie wird neue Werke in der Ukraine aufbauen, Technologien werden übertragen, Kooperationen entstehen: Doch was passiert mit all dem (geheimen) Wissen, falls die Ukraine in zehn oder 15 Jahren nicht mehr zum westlichen Lager gehören sollte? In der Branche stellt man sich durchaus solche Fragen. Doch diese fallen eher unter den Reiter „Sonstiges“. Und geht es bei den Rüstungsambitionen um die Verteidigung der Ukraine oder die Wehrtüchtigkeit Deutschlands? Ein weiterer Gedanke: Wenn heutzutage Raketenstarts schon aus dem All detektiert werden können und Raketen effektiv abgefangen werden – wie geschehen beim Angriff des Iran auf Israel –, warum sollten dann Panzer noch eine effektive Waffe sein? Dass die ukrainische Militärführung einen Teil ihrer Abrams-Panzer erst gar nicht an die Front schickt, da russische Drohnen die Gefährte leicht zerstören können, sollte mehr als nur eine Randnotiz sein. Robert Habeck wird sich deshalb im kommenden Wahlkampf stärker mit der softwarebasierten Rüstungsfrage auseinandersetzen müssen: Vielleicht profiliert er sich damit sogar. Jedenfalls verspricht der Vizekanzler, die Interessen der Waffenindustrie ins Zentrum der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz zu rücken, die im Juni in Berlin stattfinden soll. Neben ranghohen Politikern aus Deutschland und Europa soll auch Selenskyj in die Hauptstadt kommen. Die CEOs der großen Waffenkonzerne werden ebenfalls nicht fehlen.