Mittwoch, 11. Januar 2023, Berliner Zeitung
Integriert euch doch selber
Der Autor Behzad Karim Khani reagiert mit einer Provokation auf die Silvester-Debatte
Behzad Karim Khani
Wissen Sie, es passieren merkwürdige Dinge, wenn man zwei Weltkriege anfängt und beide verliert. Wenn man bis zur letzten Kugel für die abartigste Idee der Geschichte kämpft. Und nachdem diese letzte Kugel verschossen wurde, Zwölfjährige mit Gewehren ohne Munition, mit Besenstielen losschickt. Und wenn auch das nichts gebracht hat, man sich ergibt und die einen sich dann nach und nach das Wohlfühl-Narrativ zulegen, man sei nicht besiegt, sondern befreit worden, während die anderen eine Mauer bauen und behaupten, die Täter befänden sich auf der anderen Seite. Wenn man also eben noch eine Raub- und Aneignungsgemeinschaft war und plötzlich nichts mehr von den verschwundenen Nachbarn gewusst haben will oder von den Krematorien und Gaskammern.
Wenn man sich anschließend auf die Schulter klopft, man hätte eine solide Vergangenheitsbewältigung hinbekommen, wenn man sich eine einzigartige Erinnerungskultur und Verantwortung attestiert. Und all das, obwohl keine einzige Synagoge, keine jüdische Schule und auch kein jüdisches Altersheim ohne Polizeischutz auskommt.
Wir gehen nicht mehr weg
Merkwürdige Dinge passieren auch, wenn man beinahe seine gesamte Intelligenzija vergast, erschießt oder ins Exil verjagt. Und nach dem verlorenen Krieg einfache Arbeiter braucht. Menschen, die man holen kann, um die Trümmerhaufen, die bis gestern noch Berlin, Dresden oder Köln waren, wiederaufzubauen. Nachdem man ihnen zunächst in die Münder geschaut hat. Ihren Zahnbestand überprüft hat. Wie bei Nutztieren.
Eins dieser merkwürdigen Dinge, die passieren, ist, dass diese einfachen Menschen einem vielleicht nicht ganz über den Weg trauen. Und ja: Wer kann es ihnen verdenken? Dass sie nicht so erpicht darauf sind, sich mit dieser Gesellschaft zu identifizieren.
Sie ahnen es vielleicht, es geht hier um die Silvesternacht. Genauer gesagt um Neukölln, um die Sonnenallee. Also um jene Straße, die wir hier in Kreuzberg und Neukölln den Gazastreifen nennen und über die einer meiner israelischen Freunde, scherzhaft und nicht ganz ohne Schadenfreude, mal gesagt hat: „Die Araber sind die Rache der Juden an den Deutschen.“
Ja, liebe Leser:innen, es wird ungemütlich. Denn wenn wir wirklich über die Sonnenallee reden wollen, kommen wir auch um den Nahen Osten nicht herum. Aber wenn Sie diesen Satz lesen, dann ist er schon mal nicht redaktionell gestrichen worden – und selbst das wird immer mehr zur Seltenheit. Die deutsche Begeisterung und Unterstützung für jenen Staat, der von Amnesty International und Human Rights Watch als Staat bezeichnet wird, der in den von ihm besetzten Gebieten Apartheid ausübt, nimmt auch in deutschen Redaktionen immer ideologischere Züge an. Offenbar proportional dazu, je rechtsradikaler und extremistischer jener Staat wird, vor dem zahlreiche Menschen geflohen sind, die heute in der Sonnenallee leben.
Ich denke, wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo wir den Dingen in die Augen schauen sollten. Gerne gemeinsam. Gerne nüchtern. Fangen wir dafür doch mit der einfachen Feststellung an, dass wir – Migranten, Ausländer, Menschen mit ..., nennen Sie uns, wie Sie wollen – so einfach nicht weggehen werden. Und Sie, liebe Biodeutsche, auch nicht. Wobei, demografisch gesehen, gehen Sie durchaus weg. Sie sterben weg, und Ihr Land braucht für die kommenden 15 Jahre circa 400.000 neue Arbeitskräfte, das heißt ungefähr eine Million Einwanderer pro Jahr. Wir Migranten werden dieses Land wohl erben. Wir könnten hier also auf Zeit spielen. Auf eine Zeit, die Sie nicht haben. Aber das nur als Randbemerkung.
Vielleicht sollten wir einsehen, dass, wenn man für die Idee rassischer Reinheit einen Weltkrieg anzettelt, man sich nach dessen Niederlage gezwungen sehen könnte, ein Einwanderungsland zu werden. Immerhin teilten auch die Siegermächte unser Misstrauen dieser Gesellschaft gegenüber. Und vielleicht sollten wir an der Stelle auch mal überlegen, wer hier wem was schuldet. Wer hier mit wem wie redet.
Was sicher ist: Wir sind hier. Nicht nur für Ihre Rentenkassen, sondern weil wir dafür sorgen, dass der arische Albtraum in diesem Land niemals Realität wird. Dafür, dass diese Realität so weit entfernt liegt, dass selbst Nazis sie offenbar aufgegeben haben, so, wie wir alle die Idee dieses sozialdemokratischen Gesamtschul- und Mittelschicht-Miteinanders aufgegeben haben. Ohne extreme Gewalt, die jene Hitlerdeutschlands in den Schatten stellt, wird jener Albtraum sich nicht erfüllen. Dieser Zahn ist endgültig gezogen.
Was geblieben ist, ist die niedere Gemeinheit des Einzelnen, die immer wieder ihren Weg findet, sich immer wieder Bahnen bricht und dabei den Unwillen der Deutschen bloßlegt. In den faschistischen Chats der Polizei, in der verschwundenen Munition der Bundeswehr, in den Abgründen des Staates und seines Geheimdienstes, der die NSU-Taten erst vertuscht und anschließend deren Akten verschließt. In den tausend registrierten, fremdenfeindlichen Anschlägen just in dem Jahr, wo man sich parallel Orden der sogenannten Willkommenskultur an die Brust heftete.
In der ausbleibenden Empörung Ihrerseits, wenn Ihr Innenminister bundesweit Plakate aufhängen lässt, auf denen wir in unseren Muttersprachen dazu angehalten werden sollen, gegen Bezahlung dahin zurückzugehen, wo wir hergekommen sind. In den hunderttausendfach verkauften Ausgaben von Thilo Sarrazins Büchern. In dem ekelhaft stumpfen Bauchgefühlrassismus, den ein Gros seiner Leser mit ihm teilen. In der Unterstützung der amerikanischen Kriege gegen unsere Länder. In Ihrem Afghanistan-Krieg.
Dort, wo einem Ahmad Mansour, den wir auf der Straße – frei nach Onkel Tom – Onkel Mansur nennen und für den wir nicht viel mehr übrig haben als Spott, ein Bundesverdienstkreuz für seinen Einsatz in Sachen „Integration“ verliehen wird. In den vielen Verlagen dieses Landes, die von derart offener Islamophobie leben.
Wer ist schuld am Scheitern?
In den Kommentarspalten genauso wie in den Klassenzimmern, wo man so tut, als sei das koloniale Erbe nicht deutsche, sondern afrikanische Geschichte. Überall dort, wo man sich der Verantwortung verweigert. Überall trifft man sie an, die Gemeinheit. Und überall flüstert jener Unwille dasselbe. Flüstert von der Exklusivität, der Verschlossenheit und der fehlenden Integrationsbereitschaft in diesem Land. Überall sagt Deutschland uns, dass es mit uns nicht leben will, aber an dem Scheitern nicht die Schuld tragen möchte. Denn noch mehr Schuld sei nun wirklich nicht zumutbar.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Das alles rechtfertigt nichts. Nicht unsere Rohheit, die den stumpfen Gewaltexzessen unserer Kinder ein Nährboden geworden ist. Nicht die Obszönität unserer Ablehnung. Nicht unsere Ideenlosigkeit, unsere Perspektivlosigkeit, Lustlosigkeit, unsere Teilnahmslosigkeit. Nicht unser geducktes Knurren und nicht die geballten Fäuste in unseren Hosentaschen. Aber vielleicht hilft es, unser gesundes Misstrauen und unseren fehlenden Respekt vor dem Staat und seinen Repräsentanten zu begreifen.
Behzad Karim Khani, Jahrgang 1977,
wurde in Teheran, Iran, geboren. 1986 emigrierte seine Familie nach Deutschland, wo er später
an der Ruhr-Universität Bochum Kunstgeschichte und Medienwissenschaften studiert hat.
Heute lebt der Schriftsteller in Berlin-Neukölln.
In Kreuzberg betrieb er mehrere Jahre eine Bar. Im vergangenen Jahr war er für den renommierten
Ingeborg-Bachmann-Preis nominiert.