Freitag, 1. November 2024, Berliner Zeitung
Schöner sterben
Klimatrauer, Pandemie, Krieg in Europa: Heutzutage denken Menschen früh über den eigenen Tod nach. In Neukölln öffnet nun der erste Funeral Concept Space der Welt – Endlichkeitsmeditation inklusive

Timo Feldhaus
Einfach sterben? Können Sie natürlich am Ende so machen, ist aber nicht zeitgemäß.
Seitdem es Leben gibt, gibt es auch den Tod. Der Umgang mit dieser Realität ist jedoch sich verändernden Konventionen unterworfen. Augenblicklich befinden wir uns an einem interessanten Punkt in der Beziehung zum Sterben: Die einen wollen das gar nicht mehr haben, stattdessen ihr Leben ewig verlängern, mit Forschung und Genmanipulation. Die anderen meinen: Geholfen wäre bereits, wenn wir den Tod endlich als das betrachten, was er in Deutschland schon lange nicht mehr ist. Eine Kraft, aus der man schöpfen kann, etwas, mit dem man sich beschäftigen sollte, lieber früher als später. Den Tod anzuerkennen und versuchen, ihm ins Gesicht zu schauen, bevor er abrupt vor der Tür steht und klingelt – das könnte helfen.
Und es wäre sehr zeitgemäß. Womit wir bei Charlotte Wiedemann sind, der ersten Death Doula Deutschlands. Death Doulas sind wie Hebammen, nur spiegelverkehrt. Sie begleiten Menschen nicht hinein ins Leben, sondern hinaus. „Doula“ bedeutet im Altgriechischen „Dienerin“ oder „Magd“.
Wiedemann, 40 Jahre alt, trägt einen entspannten Pulli von Calvin Klein, Schlaghosen und Halbstiefel mit Leopardenprint. Sie sieht aus wie jemand, die sich kraftvoll und dem Leben zugewandt in selbigem bewegt, ihre Tochter ist sehr nett und hat Ferien. Charlotte Wiedemann sagt: „Wir möchten den Tod nicht beschönigen, der ist immer noch ganz schön scheiße in den allermeisten Fällen. Aber ich glaube, wir sollten uns ihm mutig stellen. Das Leben fühlt sich dann lebendiger an, es bekommt eine größere Dringlichkeit.“
Gedenktattoo und Gin Tonic
Wir sitzen am Hermannplatz 8, im „ersten Funeral Concept Space der Welt“. Hallöchen, denkt man, was ein Wording für diesen „neuartigen Experimentierraum für das Lebensende“. An der Fassade prangt in minimalistischem, angenehmem Branding der Name: „ahorn“. Drinnen kann man dem Space an diesem Tag noch beim Entstehen zuschauen. Das Korkparkett wird verschraubt, die Mitarbeiter haben Arbeitskleidung an, sehen schön aus, offen, jung, wie gerade aus einem coolen Technoclub gekommen. Am Sonnabend, Allerseelen, ist Eröffnung. Man kann sich kostenlos ein „Gedenktattoo“ stechen lassen, es wird Gin Tonic ausgeschenkt. Charlotte Wiedemann hat, wie sie selbst sagt, eine Mission.
Sie war mal Kultur- und Modejournalistin, dann ist etwas in ihrem Leben passiert. Der Initialmoment, der sie zur Sterbebegleitung führte, geschah während der Geburt ihrer zweiten Tochter: „Es war ein Erlebnis, das uns beide sehr nah an den Tod gebracht hat. Ich hatte das Gefühl, schon auf der anderen Seite unterwegs zu sein, in einer Zwischenwelt. Mir wurde klar, wie seiden der Faden ist, an dem alles hängt.“
Dabei sei sie von der Hebamme und den Ärzten sehr gut begleitet worden. „Was dazu führte, dass ich da nicht traumatisiert rausgegangen bin, sondern eigentlich inspiriert.“ Sie habe angefangen, alles über das Thema zu lesen. Lebenszyklen, die Parallelen von Geburt und Tod. Wie gehen verschiedene Kulturen damit um? Sie sammelte erste Erfahrungen in Hospizen und merkte, dass sie an ihrem Lebensthema dran ist: „Und dann bin ich sehr schnell in die Bestattung gerutscht.“
Das „ahorn“ gehört zu Ahorn, der größten deutschen Bestattungsgruppe, die nach eigenen Angaben über 270 Filialen in Deutschland besitzt. Nun will das Unternehmen in den Räumlichkeiten am Hermannplatz offenbar neue Geschäftsfelder erschließen, hier soll ganz Neues ausprobiert werden, Charlotte Wiedemann ist verantwortlich. Ab Sonnabend werden Traueryoga und Endlichkeitsmeditationen sowie Workshops angeboten, in denen persönliche Erinnerungsstücke und Sterbehemden hergestellt oder auch Särge gezimmert und Urnen gestaltet werden können. Es soll Wissen vermittelt werden, es gibt private Beratungen, man kann auch einfach eine Tasse Tee dort trinken.
Ob der Hermannplatz der richtige Ort ist für so einen Space? Der Kollwitzplatz scheint auf Anhieb passender, mitsamt nervösem Achtsamkeits-Klientel und dem nötigen Kleingeld. Doch Wiedemann sieht den Standort auch als Zeichen dafür, dass die Bestatter-Branche sich gerade verändert: „Der Raum ist seit 1967 von unserer Gruppe angemietet. Vorher war hier Grieneisen Bestattungen drin, eine gediegene Berliner Bestattungsmarke: 200 Jahre Geschichte, die haben die Kaiser bestattet, Marlene Dietrich und Hildegard Knef. Es ist aber auch eine Marke, die am Hermannplatz nicht mehr funktioniert hat.“
Der Kiez verändere sich. Die superteure, hippe Bäckerei La Maison habe gerade um die Ecke aufgemacht, Kreuzkölln sei gut durchmischt. Und hier leben „Menschen, die zwischen den Heimaten sind, die in Berlin genauso zu Hause sind wie anderswo. Und sich nicht mehr in den vermeintlichen Heimatländern bestatten lassen wollen, hier aber. Es ist für uns ein großes Anliegen zu erfahren, wie wir Räumlichkeiten und Rituale gestalten können, die auch für diese Menschen funktionieren.“
Vor der Tür ist Markt, viele Menschen schieben sich über den Bürgersteig, Obdachlose liegen schlafend ums Karstadt-Gebäude herum. Wenn man nur ein paar der Passanten erwische, sagt Wiedemann: „Denk mal drüber nach: Wofür soll dein Leben mal gestanden haben? Bist du auf dem richtigen Weg? Wie möchtest du erinnert werden? Was ist dein Vermächtnis? Die Dinge, die dir jetzt im Leben wichtig sind, werden dir wahrscheinlich im Tod auch noch wichtig sein. Zum Beispiel Nachhaltigkeit.“
Charlotte Wiedemann erinnert einen daran, dass jeder gern „bewusst, selbstbestimmt und kreativ mit dem Leben“ umgehen möchte. Dass man all den Fragen, die täglich auf einen einprasseln, mit Antworten begegnen will, die sich gut in den Alltag integrieren lassen und der transzendentalen Obdachlosigkeit unserer Leben einen Anschein von Sinn geben. Alles soll heute individuell perfekt auf einen abgestimmt sein, warum nicht auch der Tod.
Charlotte Wiedemann fasst das weiter: „Wir merken, dass die Menschen viel früher bereit sind, über ihre Endlichkeit nachzudenken, und zwar bevor sie einen Trauerfall haben. Aus Gründen der Selbstreflexion und auch aufgrund von Zukunftsängsten, die die jüngere Generation beschäftigen: Klimatrauer, Pandemie, Krieg in Europa. Auch viele junge Leute treten an uns heran und machen sich Gedanken über die Endlichkeit. Also nicht nur die eigene, sondern auch die unserer Spezies und die der Ressourcen unseres Planeten.“ Es gehe um ein globales Endlichkeitsbewusstsein.
Das Leben vom Tod aus betrachten, die Geschichte vom Ende her erzählen – hier in diesem hellen Raum verschränken sich so einige Gedanken zu einem. Die sorgsam ausgewählten, stylishen Urnen in der Schrankwand sind vom Berliner Urnen-Start-up Urnique und lassen einen an Manufactum oder Marsano denken, einen der teuersten und schönsten Blumenläden der Stadt. Die Urnen sind aber auch einfach sehr schön.
Laut dem Statistischen Bundesamt sind im vergangenen Jahr in Deutschland 1,03 Millionen Menschen gestorben. Die häufigste Todesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die meisten Deutschen sterben im Krankenhaus oder im Altersheim, obwohl nur sechs Prozent das wollen. Knapp 20 Prozent sterben zu Hause. Immer mehr Menschen wünschen sich einen selbstbestimmten Tod, machen sich Gedanken über den richtigen Rahmen, entscheiden sich auch zur Sterbehilfe. All diese Themen umlauern hochpolitische Fragen, die in der rapide alternden Gesellschaft nur noch dringender werden. Und niemand hat eine Antwort auf sie. Und wenn dann noch die ganz großen Fragen kommen: Was passiert nach dem Tod? Viele haben einfach Angst vor den Fragen. Auch wohl wegen eines Aberglaubens aus längst vergangener Zeit, der besagt: Jeder Schritt, den ich auf den Tod zumache, und sei es nur gedanklich, führt mich näher zu ihm hin. Ich will aber ja gar nichts mit ihm zu tun haben!
Was sollte eine Bestattung kosten?
Charlotte Wiedemann kennt das. „Meine Mutter ist Ärztin, ein sehr rationaler Mensch. Aber sie hasst es, Bilder von mir in Särgen zu sehen. Ich springe öfter mal in einen Sarg, habe mich neulich erst in einem Social-Media-Video in einen verladen lassen oder spiele für einen Workshop eine Tote. Aber man wird ja auch nicht schwanger, wenn man über Sex redet! In meinen Augen ist das Gegenteil der Fall: Je näher ich den Tod hole, umso lebendiger werde ich.“
In dem Instagram-Kanal „Der Tod und Wir“ verhilft sie mit einer Kollegin zu mehr Wissen über den Tod. Sie haben einmal Zahlen offengelegt: Was sollte eine Bestattung kosten, was braucht man wirklich, worauf kann man verzichten. Am meisten gelernt habe sie bei der Verstorbenenversorgung. Wenn man sich Zeit nehme für eine gute, bewusste Versorgung, brauche das ein bis zwei Stunden. Man wäscht die Leiche, reinigt die Körperöffnungen, kämmt das Haar, kleidet sie ein und versucht dabei zu verstehen, wen man vor sich hat. Viele wüssten gar nicht, dass man an dieser Zeremonie teilhaben, es mit der Familie oder Freunden gemeinsam machen kann.
„In so einem Moment habe ich erst realisiert, dass ich auch eines Tages so daliegen werde. Darüber kann man vorher viel sprechen, richtig verstanden habe ich das erst, als ich das gemacht habe. Es gibt eine alte Bestatterweisheit: ‚Dein erstes kaltes Füßchen vergisst du nicht‘, und es ist wirklich so. Wie bei einer schönen Beerdigung sei das: Die Sonne scheint danach ein bisschen heller. Auch weil man gemerkt hat: ‚Okay, ich war noch nicht dran.‘“
Wir haben ein schwieriges Verhältnis zum Tod, weil wir ein schwieriges Verhältnis zum Leben haben. Der Tod bleibt etwas sehr Geheimnisvolles. Weil er tabuisiert wird. Aber auch, weil er längst nicht entschlüsselt ist, weil wir so wenig darüber wissen. Ob diese Death Doula religiös ist? „Religiös nicht, aber spirituell. Ich glaube, dass das Leben in irgendeiner Form weitergeht. Dass Energie transformiert wird. Was ja die Quantenphysik auch schon belegt hat. Ich glaube an das körperliche Ende. Es ist zugleich eine meiner größten Ängste vor dem Tod, dass ich sterbe und merke: Das ist gar nicht so. Ich bin überzeugt, in dem Moment, wo man wirklich aktiv im Sterbeprozess ist, bekommt man eine Ahnung davon, wie es sein wird.“