Samstag, 13. April 2024, Berliner Zeitung
„Schlägt man einen Kopf ab, wachsen drei nach“
Seit zehn Jahren findet der Knastlauf in Berlin statt. Bei einem Trainingsbesuch werden nicht nur Personalmangel und sportliche Ambitionen thematisiert
Christian Schwager (text), Emmanuele Contini (Fotos)
Sisi kann nicht mehr. Er hat einen eingezäunten Bolzplatz umrundet, neunmal, fast neun Minuten lang. Gut zwei Kilometer hat er geschafft, musste dann aufgeben. Vielleicht ist Sisi das Training zu schnell angegangen. Vielleicht hätte er vorher nicht Fußball spielen sollen. In dem Tempo jedenfalls erreicht er sein Ziel nicht. Zehn Kilometer will er in 40 Minuten laufen, am 26. April, drüben im älteren Teil der JVA Plötzensee beim Wettbewerb der Berliner Haftanstalten.
„Im vergangenen Jahr habe ich das Rennen gewonnen“, sagt Sisi. „40,04 war meine Zeit.“ Der 30-Jährige klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust, auf das T-Shirt mit dem Aufdruck „Berlin Marathon“. Das bekommen die Besten in jedem Jahr. Damals lief Sisi noch für die JVA Moabit, wo er in Untersuchungshaft saß. Jetzt muss er in Plötzensee noch fünf Monate wegen eines Drogendelikts verbüßen. „Tegel, Heidering, Moabit, Plötzensee“: Sisi hat einige Berliner Vollzugsanstalten von innen kennengelernt. Dieser Wettlauf hinter Gefängnismauern war vielleicht nicht sein letzter.
Berlin ist so etwas wie die Hauptstadt der Inhaftierten. Vergangenes Jahr befanden sich hier rund 9550 Menschen in einem der sieben Gefängnisse oder in Sicherheitsverwahrung. Auf 100.000 Einwohner kommen 94 Inhaftierte. Die Anstalten sind stark ausgelastet, zum Teil zu fast 100 Prozent. Allein die Anlage in Plötzensee kann 395 Personen aufnehmen. Hinzu kommen 191 Plätze im offenen Vollzug für Männer. Angegliedert ist ein Krankenhaus mit 116 Betten.
Die Rückfallquote wird in Plötzensee nicht erfasst. Bekannt ist immerhin, dass 60 Prozent der Berliner Inhaftierten vorbestraft sind. Wie Sisi haben zehn Prozent bereits eine Freiheitsstrafe verbüßt. Knapp die Hälfte kommt auf fünf oder mehr Vorstrafen. Für einen Gefangenen werden pro Tag rund 180 Euro an Kost und Logis fällig.
Auch aus diesem Grund ist der Staat sehr daran interessiert, dass die Entlassenen nie wieder ins Gefängnis zurückkehren. Im Strafvollzugsgesetz heißt es: „Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“
Deshalb sind Sisi und die anderen Mitglieder der Laufgruppe an diesem Nachmittag auf dem Bolzplatz, wie an jedem Montag nach 17 Uhr. Sisis Kumpel Brandy trainiert ebenfalls mit. In dem Funktionsshirt über seinem drahtigen Oberkörper sieht er aus, als sei er ein geübter Läufer. Doch auch Brandy verfällt bald in einen Spazierschritt und bleibt stehen. „Ich habe einen Antrag für den Marathon ausgefüllt“, erzählt er und meint das Rennen über zehn Kilometer.
Einen schriftlichen Antrag müssen die Inhaftierten stellen, wenn sie in ihrer Freizeit einer der Aktivitäten nachgehen wollen, die in Plötzensee angeboten werden. Es gibt eine Theatergruppe, ein interkulturelles Kompetenztraining, regelmäßig Gottesdienste: christliche, muslimische, alevitische. Bei den Sportarten erfreut sich Fußball großer Beliebtheit. Und Kraftsport. Jedes Hafthaus verfügt über einen Bereich, in dem Körper in Form gebracht werden können.
An diesem Nachmittag schleppen einige Läufer eine beachtliche Muskelmasse über den Rundkurs. Darunter Elvis. Er geht mehr, als dass er trabt. „Zu viel gegessen“, sagt er und reibt sich den strammen Bauch. „Wenn ich das nächste Mal weniger esse, laufe ich wie ein Wiesel.“ Vom Streckenrand kommt der Kommentar: „Wie ein überfahrenes Wiesel.“ Carsten Meinherz hat das gesagt, dann haben beide herzlich gelacht.
Meinherz beaufsichtigt zusammen mit Frank Kämmer das Training. Beide tragen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Sportabteilung“, am Gürtel ein Funkgerät. In so einem Dienst kommt es vor, dass es einen schrillen, Ton aussendet. Dann spricht eine Stimme, sagt so etwas wie: „Alarm in Haus F.“ Manchmal gehen sich sogenannte Trenner an den Kragen, Insassen, die sich nicht leiden können. Manchmal ist es ein Fehlalarm.
Ende Februar war das der Fall, als eines der Häuser geschlossen bleiben musste, weil nicht genug Vollzugsbeamte zur Verfügung standen, um die Zellen zu öffnen. Müll flog aus Protest aus den vergitterten Fenstern, was auch sonst schon mal passiert, aber diesmal lag deutlich mehr in den Rabatten.
„Wir haben ein gravierendes Personalproblem“, sagt Kämmer. 270 Beamte sind im allgemeinen Vollzugsdienst Plötzensees beschäftigt. Das steht in einem Merkblatt mit dem Untertitel „... ein Arbeitsplatz auch für mich!“. Dieser Überzeugung scheinen nicht genug potenzielle Kandidaten zu sein. Zumindest reicht oft das Verhältnis von Beamten zu Gefangenen nicht aus, um alle Hafthäuser wie üblich um 17 Uhr zu öffnen, eine halbe Stunde nach der „Zählung des Bestands“, wie Kämmer es nennt. Wenn also überprüft wird, ob noch alle da sind.
Bestzeiten werden nicht erwartet
Herr K. war Ende Februar einer der wenigen, die trotz kühler Witterung um den Bolzplatz joggten. Jetzt, bei angenehmen Temperaturen Anfang April, dreht er wieder unbeirrt seine Runden. Er hat die 60 geknackt, hat wie die meisten in Plötzensee einen Job, er ist in einer Textildruckerei tätig. Sein Tag verläuft im Takt der Anstalt: Um 6 Uhr wird seine Zelle aufgeschlossen. „Ich arbeite von 7 bis 14 Uhr.“ Um 15.15 Uhr geht es für eine Stunde zurück in die Zelle. Später treibt er Sport, läuft montags, geht donnerstags zum Crossfit. Noch so ein Angebot der Abteilung Soziale Arbeit von Kämmer und Meinherz.
„Laufen war nie meine Leidenschaft und wird es wohl auch nie werden“, sagt Herr K., wacher Blick, schelmisches Lächeln. Er treibt Sport, weil der seinem Leben hier eine verlässliche Struktur gibt, ihn davon abhält, an der Enge und dem Eingesperrtsein zu verzweifeln. Ob er am Rennen der Haftanstalten teilnehmen wird, weiß Herr K. noch nicht: „Das hängt davon ab, ob ich gut drauf bin.“
Bestzeiten werden nicht erwartet, auf die gelaufene Zeit kommt es nicht an. Das weiß Herr K., Kämmer und Meinherz betonen das ja immer wieder, weisen allerdings jetzt die Läufer darauf hin, dass sie die zehn Kilometer am Stück schon traben können sollten. Ankommen ist alles. Das war ja bereits 2014 das Ziel. Damals im Oktober startete die erste Auflage in Plötzensee, wo die Idee auch entstand. Der ehemalige Berlin-Marathon-Chef Horst Milde hatte erfahren, dass es dort eine Trainingsgruppe gebe. Nach einigen Gesprächen war klar: „Wir machen einen Lauf, bei dem Gefangene mit Leuten von außen zusammenkommen.“
Bis zu 70 der sogenannten Internen dürfen antreten, zehn pro Haftanstalt. Etwa ein Drittel sind Externe, die nicht in die Wertung eingehen. Wettkampfrichter überwachen das Rennen. Die Strecke ist exakt vermessen. Würde der Sieger des Gefängnislaufs eine Bestzeit schaffen, wäre sie offiziell anerkannt.
Herr S. ist 63 und läuft auch an den übrigen Tagen der Woche, dann auf dem Freistundenhof, der hinter jedem Hafthaus liegt. Wäre er nicht im Rentenalter, wenn er in die Freiheit entlassen wird, käme bei seinem Eifer eventuell sogar eine Umschulung in Betracht, die jetzt einer der Ehemaligen macht, ein 50-Jähriger. „Er lässt sich zum Fitness-Kaufmann ausbilden“, erklärt Kämmer: „Er hat bei uns an allen sportlichen Aktivitäten teilgenommen, die es gibt.“ Er entdeckte sein Faible für Sport – ein seltener Fall.
Die Trainingsstrecke der Plötzenseer Gefangenen ist ebenfalls abgezirkelt. So, dass 250 Meter pro Runde zustande kommen. Herr K. hat die letzte für diesen Tag inzwischen hinter sich gebracht. Von Kämmer verabschiedet er sich bis zum Donnerstag. „Wir sehen uns beim Crossfit.“ Herr S. dagegen ist noch längst nicht fertig. Er protestiert, als er in die Zelle soll: „Die anderthalb Stunden sind doch noch gar nicht rum.“
Es geht auf 18 Uhr zu. Ein Läufer bleibt bei Kämmer stehen. Er sagt, dass er zum nächsten Basketballtraining in der kleinen Turnhalle der Anstalt einen Zellennachbarn mitbringe. „Der kann was am Ball“, meint der Mann. „Na, wenn Sie das sagen“, entgegnet Kämmer, „muss das ja stimmen.“
Der Läufer ist vielleicht Mitte 30, groß und kräftig, sein Blick glasig. Er trägt rote Basketballshorts und ist überzeugt, nach verbüßter Strafe in der NBA anfangen zu können. Davon werden Kämmer und Meinherz später berichten. In der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Anstalt habe der Mann nicht bleiben wollen, er habe sich dort fehl am Platz gefühlt als künftiger NBA-Star. Offenbar hat ein exzessiver Konsum von Drogen aller Art seine Spuren hinterlassen. In Plötzensee müsste der Basketballer nicht zwangsläufig zum Abstinenzler werden.
Wäre Herr S. nicht so wortkarg, könnte er davon berichten, was da alles vom Parkplatz der benachbarten Spedition über die Mauer auf seinen Freistundenhof fliegt, mit den besten Empfehlungen der wurfgewaltigen Dealer: harte Drogen, weiche Drogen, Cannabis, Koks. „Sogar Testosteron kann man hier bekommen“, sagt Kämmer. Meinherz ergänzt: „Das ist wie mit der Hydra: Schlägt man einen Kopf ab, wachsen drei nach.“ Die auf der anderen Seite der Mauer sind immer einen Schritt voraus.
Der Anstaltsfriseur kommt vorbei auf dem Weg zu Haus E., ein Inhaftierter, der sich aufs Haareschneiden versteht. Er trägt ein hautenges T-Shirt, knappe Shorts, Sportschuhe. Hielte er nicht ein schwarzes Köfferchen in der Hand, könnte man meinen, er wolle beim Lauftraining einsteigen. „Jetzt wüsste man gern, was da in dem Koffer ist“, sagt Meinherz. Es könnte ein Scherz sein. Kurz darauf meint der Vollzugsbeamte, ohne Humor sei es in seinem Beruf schwierig.
Mit Cannabis und Koks kennt sich auch Sisi aus. Wegen seiner Drogengeschichten ist er ja in Plötzensee. Früher, in seiner Heimat Tunesien, hat er Handball gespielt. In Deutschland dann schloss er sich einem Team der vierten Liga an, das war in der Nähe von Heilbronn. „Irgendwann habe ich die Seite gewechselt“, sagt Sisi. Er hat sich auf das Geschäft mit Drogen eingelassen. Selbst habe er 15 Gramm Cannabis am Tag konsumiert. „Hier brauche ich nur ein Gramm.“
Es geht gerade um die Frage, ob er die zehn Kilometer schaffen wird, demnächst beim Wettlauf der Haftanstalten. „Klar“, sagt Sisi. Und als wäre das der Beweis: „40 Minuten.“ Stimmen schallen über den Platz. Zwei Männer rufen aus ihren Zellen einander auf Arabisch etwas zu, von Haus E zu Haus F und zurück. Sisi lacht laut auf. Und alles Weitere behält er für sich.