Die lange geplante, von außen gefeierte Gegenoffensive der ukrainischen Armee ist blutig gescheitert; die Ukraine hat eine entscheidende Niederlage erlitten und dürfte nach menschlichem Ermessen nicht mehr in der Lage sein, die von der ukrainischen Führung geforderte Rückeroberung aller besetzten Gebiete militärisch zu erreichen. Die Auswechslung des anerkannten bisherigen Generalstabschefs Saluschnyj durch Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt, wie geschwächt und gespalten das Land in der Frage der Eskalation des Krieges ist. Die Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten schwindet; nach Umfragen sind es noch circa 20 Prozent. Es fehlt an Soldaten, Waffen und Munition.

Vor allem: Sehr viele Ukrainer fühlen sich inzwischen von der Nato in den Krieg hineingetrieben und dann hängen gelassen. Das gilt naturgemäß nicht für die Regierung selbst, die Geheimdienste und die radikalen Nationalisten, die an Schaltstellen von Kultur und Politik sitzen.

Ein traumatisiertes Land

Die Müdigkeit zeigt sich an den vielen, die sich dem Kriegsdienst entziehen. Allein in Deutschland befinden sich an die 200.000 Ukrainer. Sie wollen nicht Kanonenfutter für einen Krieg sein, der – wie sie erkennen müssen – so nicht hätte geführt werden brauchen und den man hätte früh beenden können. Nach Angaben eines einst engen Mitarbeiters Selenskyjs haben sich um die 4,5 Millionen geweigert, von den Militärbehörden registrieren zu lassen. Für ein Land mit einer Bevölkerung von schätzungsweise nur noch 28 Millionen Einwohnern, von denen zehn Millionen Rentner sind, ist das ein riesiges Problem, welches die Weiterführung des Krieges infrage stellt.

Die ukrainischen Verhandlungsführer betonen inzwischen offen, dass es im März und April 2022 in Istanbul sehr weit gediehene Friedensverhandlungen zwischen Ukrainern und Russen gegeben hatte und dass es nicht an ihnen oder an Selenskyj gelegen habe, wenn es damals nicht zu einer Einigung kam. Sondern an der Haltung der Briten und der Amerikaner, denen sich dann die anderen in der Nato angeschlossen hätten.

Sie waren dem Frieden sehr nahe! Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, und ich haben die sehr weitreichende Chance zu einem frühen Kompromiss in der Ukraine ausführlich rekonstruiert.

Nach wie vor wird jedoch, besonders in Deutschland, systematisch versucht, diese Tatsache zu relativieren oder gar zu leugnen. Tilo Gräser hat vor wenigen Tagen unter dem Titel „Die nicht gewollte Friedenschance von Istanbul im Frühjahr 2022“ eindrucksvoll jede Relativierung oder gar Infragestellung begründet abgewiesen. Er verweist auf den ukrainischen Diplomaten Oleksandr Chalyj, der 2022 in Istanbul dabei war und bei einer Veranstaltung des Geneva Centre for Security Policy erklärte: „Wir verhandelten mit der russischen Delegation praktisch zwei Monate lang, im März und April, über ein mögliches Abkommen zur friedlichen Beilegung des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland. Und wir haben, wie Sie sich erinnern, das sogenannte Istanbuler Kommuniqué abgeschlossen. Und wir waren Mitte oder Ende April kurz davor, unseren Krieg mit einer friedlichen Lösung zu beenden. [...] Putin hat eine Woche nach Beginn seiner Aggression am 24. Februar letzten Jahres sehr schnell eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hat, und versuchte, alles zu tun, um ein Abkommen mit der Ukraine in Istanbul zu schließen. [...] Putin wollte also wirklich eine friedliche Lösung mit der Ukraine erreichen. Das darf man nicht vergessen.“

Oleksyi Arestowytsch, ehemaliger Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und ebenfalls ein Mitglied der ukrainischen Verhandlungsdelegation, wurde noch deutlicher. In einem am 15. Januar 2024 veröffentlichten Interview mit dem Magazin Unherd sagte er zum Verhandlungsergebnis: „Es war das beste Abkommen, das wir hätten abschließen können.“ Auf die Frage, ob die Verhandlungen erfolgreich waren, antwortete er: „Ja, vollständig. Wir haben die Champagnerflasche geöffnet. Wir hatten über Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Fragen der russischen Sprache, der russischen Kirche und vieles mehr gesprochen.“

Tilo Gräser zitiert auch die beiden bis heute einflussreichen amerikanischen Autorinnen Fiona Hill und Angela Stent in der außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs, Ausgabe September/Oktober 2022: „Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im März 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben.“ Nur in einem waren sie ungenau: Das war keine Zwischenlösung, sondern der Rahmen für eine Friedenslösung des Ukraine-Krieges und eine Meisterleistung ukrainischer Diplomatie.

In der Tat: Dieser Krieg hätte mit einer weitreichenden Friedensregelung im März/April 2022 zur Zufriedenheit der Ukraine und Russlands beendet werden können. Dass dies nicht geschehen ist, lag nicht an der Ukraine und auch nicht an Präsident Selenskyj.

Ein solcher Frieden, der im Kern auf ein ukrainisches Versprechen der Neutralität aufbaut, gegen das russische Versprechen, die territoriale Integrität der Ukraine anzuerkennen, war für die Nato und allen voran die USA nicht akzeptabel. Präsident Joe Biden bemühte sich sogar, nach Brüssel zu kommen und dem dortigen Nato-Sondergipfel vom 24. März beizuwohnen. Dort wurde dann entschieden, dass die Nato keine Verhandlungen oder gar Friedensregelungen unterstützen würde, solange Russland nicht alle seine Streitkräfte aus den besetzten ukrainischen Gebieten abzieht. Mit anderen Worten, die Nato forderte zuerst eine militärische Niederlage Russlands und dann, vielleicht, Gespräche.

Als die Ukrainer weiter an den Regelungen der mit Russland getroffenen Vereinbarungen festhielten, besuchte der ehemalige britische Premierminister überraschend Kiew und erklärte Selenskyj kurzerhand, dass die Ukraine alle Unterstützungen des Westens verlieren würde, sollte er das Friedensabkommen mit Russland unterschreiben.

Boris Johnsons Botschaft war: Weiterkämpfen. So tragen die Nato und ihre Mitgliedsländer eine schwere Verantwortung für die Weiterführung und Eskalation des Krieges, für Hunderttausende Opfer, für die Zerstörungen und letztlich auch für die höchst missliche militärische Lage, in der sich die Ukraine heute befindet.

Das Ziel der Nato war, Russland in die Knie zu zwingen und es als Großmacht ein für alle Mal auszuschalten. Offenkundig hat es im Westen und auch gerade in der Ampelkoalition eine Kette an sehr weitreichenden Fehleinschätzungen gegeben – angefangen bei dem Spruch „Russland darf nicht siegen“ bis zu den misslungenen Wirkungen von Sanktionen und einer auf Fehlwahrnehmungen basierenden Hochrüstungspolitik. Diese ungeheure Verantwortung lastet auf denen, die dies im Ende März und im April 2022 entschieden haben. Wie wollen die, die über Monate versucht haben, das Wissen um die damaligen Friedensbemühungen zu verharmlosen und ins Gegenteil zu verkehren, sich rechtfertigen, nachdem erkannt und neu belegt worden ist, dass beide Seiten an einem Erfolg dieser Friedensverhandlungen interessiert waren?

Es geht in einer solchen Frage der Empirie nicht darum, die politische Vita des russischen Präsidenten, des ukrainischen Präsidenten oder der westlichen Zuständigen zu beurteilen, sondern ganz konkret darum, ob und inwiefern es in dieser Situation eine Friedensregelung hätte geben können oder nicht. Dazu ist das historische Urteil inzwischen eindeutig. Es hat sie gegeben. Während die Vereinigten Staaten kriegsmüde geworden sind, sollen wir Deutsche nun „kriegstüchtig“ werden.

Zu Beginn des dritten Kriegsjahres hat sich die zentrale Macht in der Unterstützung dieses Krieges, die Vereinigten Staaten, im Zuge des im eigenen Land angelaufenen Wahlkampfs faktisch weitgehend zurückgezogen: Es gibt weder zeitgerecht Geld zur Versorgung der ukrainischen Bevölkerung noch zu entsprechender Munitionierung der ukrainischen Armee. Das schwächt schon jetzt die Lage der Ukrainer an der Front. Wie in Afghanistan und bei mehreren anderen amerikanischen Interventionen scheinen die Amerikaner zu dem Schluss gekommen zu sein, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, und ziehen sich daher zurück. Sollte Donald Trump in weniger als einem Jahr Präsident der Vereinigten Staaten werden, muss man dann sogar damit rechnen, dass es zu einem amerikanisch-russischen Einverständnis über die Köpfe der Europäer kommen könnte?

Vor diesem Hintergrund scheinen die Bemühungen des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz geradezu grotesk. So sehr er sich bemüht – es wäre Wahnsinn, wenn er tatsächlich glaubt, er könne die Ressourcen der Vereinigten Staaten durch ein europäisches Vorgehen ersetzen.

Was wir in diesen Tagen von der Fünfergruppe Kiesewetter-Bütikofer-Hofreiter-Major-Strack-Zimmermann hören, ist eine geradezu absurd anschwellende Kriegsfurcht: Die hysterische Annahme, dass die russische Führung vor einem Angriff auf Nato-Staaten nicht zurückschrecken und wir vor einem Jahrzehnt der Konfrontation mit Russland stehen würden. Gleichzeitig fordert Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht etwa die Herstellung der Verteidigungs-, sondern mal eben der „Kriegstüchtigkeit“ Deutschlands und provoziert damit noch die ebenso unsinnige wie gefährliche Debatte über eine atomare Bewaffnung Deutschlands – während Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf einen Sieg über Russland pocht.

Der schrille Ton überblendet den schlichten Sachverhalt, dass die russische Führung zusammen mit der ukrainischen Führung im März 2022 den Krieg beenden wollte und heute Angebote für einen Waffenstillstand macht. Der Ton macht vergessen, dass man in den vergangenen zwei Jahren wechselweise erklärt hat, Putin könne nicht, er wolle nicht und man dürfe auch nicht mit ihm verhandeln.

Der russische Präsident hat vor wenigen Tagen in einem zweistündigen Interview mit dem amerikanischen Journalisten Tucker Carlson erneut ein ernsthaftes Interesse bekundet, zu einem Ende des Krieges zu kommen. Und inzwischen ein Angebot zu einem Waffenstillstand gemacht!

Deutschland muss aus Verantwortung vor seiner Geschichte friedenstüchtig und nicht kriegstüchtig werden. Zwei Jahre nach Kriegsbeginn, nach verheerenden Kämpfen, nach der Flucht von Millionen Menschen, der Zerstörung der Infrastruktur sowie dem Tod von ukrainischen und russischen Soldaten ist die Frage noch dringender, ob es wenigstens jetzt unter ganz anderen Bedingungen die Chance eines Waffenstillstands und einer Friedensregelung gibt. Meines Erachtens steht hierzu der Test aus!

Es wäre Ausdruck politischer Vernunft und einer am Friedensgebot Deutschlands und Europas orientierten verantwortungsethischen Pflicht, auch jetzt – unter ganz anderen, erschwerten Bedingungen – die gegenseitige Verhandlungsbereitschaft zu testen. Schon zu Beginn des letzten Jahres hat Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung eindrücklich dazu aufgefordert, auf eine Eindämmung und Unterbrechung des Krieges zu sinnen.

Die USA, Großbritannien, die BRD und die Nato sind derzeit erkennbar aus politischen Erwägungen unfähig, ein ernsthaftes Interesse an solchen Verhandlungen zu entwickeln. Und das, obwohl die russische Führung dieser Tage – trotz der Tatsache, dass die ukrainische Armee militärisch gesehen auf verlorenem Posten steht – erneut einen Waffenstillstand anbietet. Ob die Haltung der Nato-Staaten aus ideologischer Verengung, gegenseitigem Anpassungsdruck oder aus dem Bemühen um die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit resultiert, ist nicht immer auszumachen.

Wähler können entscheiden

Bei den Europawahlen am 9. Juni muss es um Krieg und Frieden gehen – da können die Wähler entscheiden. Wenn jedoch regelmäßig mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung mehr Diplomatie gewagt sehen wollen, dann dürfte dies ein, wenn nicht sogar das zentrale Thema des gerade beginnenden Wahlkampfs zum Europäischen Parlament sein. Es ist eine Frage der nächsten Monate, bis diese verkrustete Haltung von Ampel und CDU/CSU durch Debatten im Wahlkampf aufgebrochen sein dürfte.

Wie wir aus vielen Gesprächen wissen, rumort es in den Parteien, bei der SPD brodelt es, aber auch bei den Grünen. In Wahlkampfzeiten, in denen es um die soziale Schieflage, die ökonomische Krise und um Krieg und Frieden in Europa geht, wird die Debatte um die Ukraine und um Auf- oder Abrüstung bald vermutlich von anderen Parteien geführt.

Bei den Europawahlen muss die Entscheidung für die Wiedererlangung eines Friedens auf europäischen Boden fallen und Frieden ist nur über Verhandlungen zu erreichen. Dazu gibt es keine Alternative. Das kann zu überraschenden Wahlergebnissen führen.