Freitag, 20. Dezember 2024, Berliner Zeitung
Ohne Tarnung
Ein Verfassungsschützer packt aus – über Missstände in der Behörde, Arbeit mit V-Leuten und darüber, warum das Amt nun Leute ins Visier nimmt, die bislang als harmlos galten
Andreas Kopietz
Gregor S. wollte Schaden vom Land abwenden. Er wollte die Bundesrepublik beschützen vor Rechts- und Linksextremen, vor Islamisten. In der Arbeit beim Verfassungsschutz, dem „Frühwarnsystem der Demokratie“, sah er seine Berufung. Doch nun hat ihn der Nachrichtendienst selbst zum Risiko erklärt. Das Drama nahm seinen Lauf, nachdem er Missstände in der Behörde angesprochen hatte.
Der 36-Jährige hat sich dazu entschlossen, über die Zustände beim Verfassungsschutz auszupacken. Er will erklären, wie es kommt, dass inzwischen auch Leute ins Visier der Behörde geraten, die bislang als harmlos galten. Das Treffen findet im Osten Berlins in einer Wohnung mit seiner Anwältin Christiane Meusel statt. Sein Name ist der Redaktion bekannt. Doch wegen der Umstände wählte er das Pseudonym Gregor S. – nach einer Figur aus einer Erzählung von Franz Kafka.
Gregor S. war bei der Bundeswehr, dann beim Verfassungsschutz in Hessen. Er schloss ein Studium beim Bundesamt für Verfassungsschutz als Verwaltungswirt ab und wechselte 2022 zum Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) nach Sachsen. Dort arbeitete er in der Abteilung „Beschaffung“, eben jenem Ressort, das Informationen beschafft. Er führte Vertrauenspersonen (VP) als menschliche Quellen. Dabei fiel ihm manche Absonderlichkeit auf. Etwa, dass die Fahrzeuge des sächsischen Verfassungsschutzes auf das Innenministerium angemeldet seien. „Über eine Halterabfrage kann jeder herausfinden, auf wen die Autos der verdeckt operierenden Mitarbeiter gemeldet sind. Dann ist die Tarnung weg, das kann gefährlich werden, wenn die Antifa, Neonazis oder islamistische Gefährder herausfinden, wer zum Verfassungsschutz gehört, weil er an oder in einem unserer Autos gesehen wurde“, sagt Gregor S.
Schlechter Schutz der Mitarbeiter
Er erzählt, dass der Verfassungsschutz auch keine unregistrierten SIM-Karten für seine Telefone habe – weder für VP-Führer wie ihn noch für seine Vertrauenspersonen. „Damit kann jede Stelle, die die Möglichkeit hat – nicht nur die Polizei, sondern auch ein Telekommunikationsunternehmen –, nachvollziehen, wer der Besitzer ist“, sagt er. „Und das kann, wie bei der Sache mit den Nummernschildern, ebenfalls unschön werden.“ Diese Probleme gebe es auch in anderen Bundesländern, ist er sich sicher.
Schlecht ist nach seiner Darstellung auch der Schutz der Mitarbeiter draußen organisiert: Er sei einmal bei einem Treffen mit einer Quelle gewesen, wo die Umstände unklar waren. Deshalb habe er ein Schutzteam angefordert. „Dafür muss man Anträge schreiben, die genehmigt werden müssen. Das dauert.“ Um die Bürokratie zu meiden, würden manche Kollegen auf ein Schutzteam verzichten und ein hohes Risiko eingehen. „Andere dagegen machen Dienst nach Vorschrift, mit den entsprechenden Folgen.“
„Es gibt viele Probleme und Forderungen im Beschaffungsbereich und bei der VP-Führung“, sagt er. Diensterfahrene Kollegen hätten ihm ihr Leid geklagt. Probleme seien bei der Personalversammlung offen angesprochen worden, aber von der Leitung ignoriert worden. Das Arbeitsumfeld bezeichnet er als unprofessionell, sodass der Dienst seine Aufgabe nicht erfüllen könne.
„Deshalb kann der Verfassungsschutz die gewaltbereiten Strukturen im Islamismus, bei Links- und Rechtsextremisten nicht in der Tiefe durchdringen und dort Informanten gewinnen, sondern kratzt an der Oberfläche“, meint er. „Auch deshalb kümmert er sich immer mehr um Leute, die bisher kein Fall für ihn waren.“ Dafür gebe es die neue Extremismus-Kategorie „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“.
Gregor S. sagt: „Das ist die Blaupause für uferlose Überwachung von allen, die Kritik äußern.“ Von einer Behörde mit Sicherheitsaufgaben habe sich der Verfassungsschutz zu einer politischen Narrativ-Schreibwerkstatt entwickelt. „Schwammige Worthülsen würden dazu genutzt, Personen in bestimmte Bereiche zu schreiben. Das hat mehr mit Interpretation zu tun als mit belastbaren justiziablen Fakten.“
Der Verfassungsschutz als weisungsgebundene Behörde des jeweils zuständigen Innenministeriums hat derzeit ein Imageproblem. Laut einer Recherche des Nachrichtenportals Apollo News soll Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer ein System aufgebaut haben, das von internen Intrigen, Bedrohungen und Vernetzungen zu Journalisten des MDR geprägt ist. Kramer soll die Einstufung der AfD als „gesichert rechtsextrem“ aktiv vorangetrieben haben. Er soll auch die Verwendung eines Ergänzungsgutachtens untersagt haben, das offizielle Gutachten zur Einstufung infrage gestellt hätte.
Auch das LfV Sachsen sortierte den dortigen AfD-Landesverband im Dezember 2023 als „gesichert rechtsextrem“ ein. „So wie ich den Präsidenten, seinen Führungsstil und die internen Strukturen kennengelernt habe, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ein erheblicher Druck auf den Fachbereich ausgeübt wurde“, sagt Gregor S. Letztlich sei es die Verantwortung der zuständigen Leiter und Sachbearbeiter, das Handeln auf Rechtswidrigkeiten zu überprüfen und zu melden. „Dem steht ein System der Angst gegenüber, das dies zu unterbinden versucht – Angst vor Ausgrenzung, schlechter Beurteilung, Versetzung“, meint Gregor S. Er hält es für lohnenswert, in die Akten zu schauen. „Hier sehe ich ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit. Doch die Akten werden mit Hinblick auf vermeintlichen Geheimschutz so niemals zugänglich sein. Oder derart geschwärzt werden, dass interessante Stellen nicht mehr ersichtlich sind.“
Nach seiner Ansicht ist der Verfassungsschutz ein verkrusteter, bürokratischer Beamtenapparat. Die Atmosphäre sei paranoid, es herrsche Hauen und Stechen. „Nach oben wird gebuckelt und nach unten getreten. Das findet man überall, aber für einen Nachrichtendienst ist das gefährlich.“
Zu diesem drastischen Schluss ist Gregor S. nach Erfahrungen in drei Behörden des Verfassungsschutzes gekommen. Er sammelte die Kritikpunkte, die seine praktische Arbeit betrafen, schrieb hierzu einen Vermerk an seine Vorgesetzten. Zum Beispiel rügte er bürokratische Absurditäten wie die Rechtfertigungspflicht darüber, warum man welchen Kontakt zum Essen eingeladen und wie viel Kaffee man gekauft habe. Er schrieb über die aus seiner Sicht unzureichende technische Ausstattung. Über Probleme bei den Dienstzeitregelungen wie der Forderung, sieben Tage die Woche 24 Stunden ohne Grundlage erreichbar zu sein. Er nahm viele Kritikpunkte seiner Kollegen auf. Dann sei er samt Änderungsvorschlägen zu seinem Chef gegangen. „Ich hatte die Idee, dass man sich offen zusammensetzt und das bespricht.“
„Aber niemand wollte es hören“, sagt Christiane Meusel. „Anstatt ihn zu belobigen, bekam er eine schlechte dienstliche Beurteilung. Man hat ein Disziplinarverfahren eingeleitet, mit Vorwürfen, die an den Haaren herbeigezogen sind, man wollte ihn nach Görlitz strafversetzen.“
„Das ging nicht gegen mich persönlich. Kritik wird generell als Gefahr eingestuft. Es gab ein Sechs-Augen-Gespräch mit dem Abteilungsleiter und meinem Präsidenten“, sagt Gregor S. „Und sie haben mir klargemacht, dass ich das so zu akzeptieren habe oder mir einen anderen Arbeitgeber suchen soll. Das war dann auch der Beginn dieser unschönen Maßnahmen“, die seine Anwältin als Mobbing bezeichnet.
Weil es nach Angaben der Anwältin die Regel gab, „24/ 7“ erreichbar zu sein, drehte man ihm den Strick, als er nachweislich krank war: Die Behörde warf Gregor S. vor, in dieser Zeit Quellen „abgeschaltet“ zu haben. Dabei habe er nachweislich um Vertretung gebeten gehabt, sagt er. Nach Einschätzung von Christiane Meusel fehlt es in der Behörde an einem wirksamen Vertretungsmanagement. Wegen der angeblich abgeschalteten Quellen leitete die Behörde im vergangenen Jahr gegen Gregor S. ein Disziplinarverfahren ein und verhängte eine Geldbuße von 2500 Euro. Außerdem entzog sie ihm die Sicherheitsermächtigung zum Betreten des Objektes.
Aber warum sollte sich eine Behörde so gegenüber Mitarbeitern verhalten, die Verbesserungsvorschläge machen? Christiane Meusel arbeitete selbst von 2013 bis 2019 beim Bundesamt für Verfassungsschutz. „Diejenigen, die sachliche, konstruktive Kritik üben, werden rausgeekelt“, sagt sie. Damals war sie zu Untätigkeit verurteilt. Als sie dies zu Protokoll gab, habe man ihr vorgeworfen, den Betriebsfrieden zu stören, und ihr geraten zu verschwinden. Sie kündigte. Später sei im Bundesamt kolportiert worden, dass ihr gekündigt wurde, weil sie geheime Dossiers über Mitarbeiter geschrieben habe. Meusel gewann vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg und bekam vom Verfassungsschutz 10.000 Euro Entschädigung wegen Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechtes.
Die 57-Jährige stammt aus kirchlichen Kreisen und wuchs in Ost-Berlin auf. Schon zu DDR-Zeiten bekam sie Ärger wegen eines „Schwerter zu Pflugscharen“-Aufnähers. Was Überwachung durch einen staatlichen Sicherheitsdienst bedeutet, weiß sie. Deshalb macht sie der Fall von Gregor S. so wütend – aus ihrer Sicht wird alle Kraft in die Überwachung von Menschen investiert, die gegen die Regierung protestieren, nicht aber gegen Bedrohungen durch Islamisten, Links- und Rechtsextremisten. Sie kommt zu dem Schluss: „Die Sicherheit der Bundesrepublik liegt in Gottes Hand, aber nicht beim Verfassungsschutz.“
Strafanzeige wegen Geheimnisverrats
Gegen das Disziplinarverfahren und den Entzug der Sicherheitsermächtigungen hat Gregor S. beim Verwaltungsgericht Dresden Klage eingereicht. Im Mai dieses Jahres sprach er über das Thema mit der Schwäbischen Zeitung. Die Behörde konnte ihn schnell identifizieren. Nach Erscheinen des Artikels leitete der sächsische Verfassungsschutz ein weiteres Disziplinarverfahren gegen ihn ein, mit dem Ziel, ihn aus dem Amt zu entfernen. Das sächsische Innenministerium stellte Strafanzeige wegen Geheimnisverrats.
Meusel zufolge hat er sich nicht des Geheimnisverrats strafbar gemacht, weil er vorher alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten innerdienstlich ausgeschöpft habe, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Diese zu benennen, falle nicht unter Geheimschutz. Sie hat den renommierten Wiesbadener Anwalt und Rechtsprofessor Alfred Dierlamm um Hilfe gebeten. Nach eigener Aussage versucht dieser seit längerer Zeit, bei der Staatsanwaltschaft Dresden Akteneinsicht zu bekommen. Auch Dierlamm sagt: „Ich halte die Vorwürfe für offensichtlich unbegründet.“
Was sagt der Verfassungsschutz zu all diesen herben Vorwürfen? Das Bundesamt ist den 16 eigenständigen Verfassungsschutzbehörden nicht weisungsbefugt. Aber es hat eine Zentralstellenfunktion, etwa bei der Koordinierung der Arbeitsschwerpunkte.
Zum Fall Gregor S. will sich dort niemand äußern. Eine Sprecherin verweist auf das Sächsische Staatsministerium des Innern. Dessen Sprecher teilt mit, es handele es sich um einen jungen Mitarbeiter, der erst eine relativ kurze Zeit im Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen tätig sei und seine Ideen sowie fachlichen Verbesserungsvorschläge eingebracht habe. „Mit der eigenmächtigen Umsetzung seiner Ideen überspannte er jedoch eindeutig den Bogen und beging Dienstrechtsverletzungen“, so der Sprecher weiter. Zu Personalangelegenheiten und behördeninternen Angelegenheiten werde man sich nicht öffentlich äußern. Inoffiziell ist das möglicherweise anders.
Besonders exklusive Kontakte zum sächsischen Verfassungsschutz scheint die Leipziger Volkszeitung zu haben, die im Juni den Fall aufgriff. Ihr Informant ist nach eigenem Bekunden „jemand, der mit dem Vorgang vertraut ist“. Dieser jemand bezeichnete es als einmaligen Vorgang, dass ein Geheimdienstler „dermaßen unverfroren operative Details ausplaudert. Offenkundig, um dem Ansehen des Verfassungsschutzes zu schaden und dessen Arbeitsfähigkeit zu beeinträchtigen.“
Gregor S. jedenfalls hat die Nase vom Staatsdienst voll. Er will nicht zurück und hat seinen Abschied eingereicht.