Samstag, 6. Juli 2024, Berliner Zeitung
„Die Ostdeutschen sind keine eingebildeten Kranken“
Der Osten ist keine westdeutsche Erfindung, sagt der Soziologe Steffen Mau. Es gibt ihn wirklich, und er ist anders als der Westen, der sich nicht für ihn interessiert
Susanne Lenz und Anja Reich (Interview) und Markus Wächter (Fotos)
Der Soziologe Steffen Mau kommt zum Interview zu uns in die Redaktion am Alexanderplatz, um mit uns über sein neues Buch zu sprechen: „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“. Er erzählt, dass er viele Interviewanfragen ablehnt, aber die Leser der Berliner Zeitung seien auch seine potenziellen Leser.
Herr Mau, der Titel Ihres Buchs passt zur Deutschlandkarte nach der Europawahl. Wollen nun alle von Ihnen wissen, was im Osten los ist?
Ich kriege jeden Tag zehn Anfragen für Interviews.
Dass der Osten anders ist, anders wählt, woran liegt das?
An den ökonomischen, sozialstrukturellen und demografischen Unterschieden. Der Westen ist ethnisch und religiös diverser, es gibt eine stärkere gehobene Mittelschicht, ein großes Beamtentum, Selbstständige, Unternehmer, gehobenes und mittleres Management. Ostdeutschland ist ein Land der kleinen Leute geblieben. Zwanzig Prozent derer, die hier leben, kommen aus Westdeutschland, das sind die Sparkassendirektoren, die Professoren, die Unternehmer. Ostdeutschland ist auch demografisch anders, wenn Sie an die starke Abwanderung in den Westen und den dramatischen Geburteneinbruch Anfang der 90er-Jahre denken. Da sind viele gut qualifizierte und auch mental offene Leute weggegangen, die nachrückenden Jahrgänge sind recht klein. Der Osten schrumpft, der Westen wächst bevölkerungsmäßig. Zudem ist der Osten stark überaltert.
Rächen sich jetzt die Fehler, die in den 90er-Jahren gemacht worden sind?
Ja. Stärker, als man denken würde. Ich habe lange schon angenommen, dass uns das wie ein Bumerang wiederbegegnen würde.
Seit wann ist Ihnen das klar?
Als ich vor fünf Jahren mein Buch „Lütten Klein“ geschrieben habe, ist mir klar geworden, dass unter dieser Oberfläche des politischen Sprechs von der Vollendung der deutschen Einheit eine Menge Unwuchten oder Frakturen stecken. Selbst wenn es den Leuten besser geht, haben sich viele Frustrationen erhalten. Man reagiert stärker auf Enttäuschungen, fühlt sich von der Politik abgekoppelt. Es gibt im Osten beim Wahlverhalten zudem ein viel stärkeres Stadt-Land-Gefälle als im Westen. Wenn es im Osten nicht die großen Universitätsstädte geben würde, wären die Grünen nirgendwo in den Landesparlamenten.
Wie ist man nach der Wende überhaupt auf die Idee gekommen, dass wir uns irgendwann annähern? Rückblickend klingt das ja fast absurd.
Vielleicht hat Willy Brandt uns auf eine falsche Fährte geführt, als er gesagt hat: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Man hat gedacht, das funktioniert mehr oder weniger von allein. Weil wir alle Deutsche sind. Und jetzt stellt man fest: Wir sind zwar zusammengewachsen, aber schief. Und deshalb humpelt das ganze Ding. Das ist ein irreparabler Schaden.
Liegen die Ursachen für die Unterschiede eher in der Zeit vor dem oder nach dem Mauerfall begründet?
Mit anderen Worten: Ist die DDR schuld oder die Wiedervereinigung? Das kann man seriös nicht beantworten. Natürlich gibt es einen langen Schatten der DDR. Es gab aber auch nach dem Mauerfall noch sehr unterschiedliche Erfahrungen. Anfang der 90er-Jahre gab es in der Bundesrepublik West einen richtigen Wirtschaftsboom, und im Osten zur gleichen Zeit eine enorme ökonomische Talfahrt, 75 Prozent der Industriearbeitsplätze sind abgebaut worden. Dem Westen ging es also recht gut und der Osten hatte starke Transformationsschmerzen.
Also ist der Osten keine westdeutsche Erfindung, wie Dirk Oschmann sagt, sondern es gibt ihn wirklich?
Ja, es gibt ihn wirklich, der Osten ist anders. Ich würde sogar sagen: Der Westen interessiert sich eigentlich nicht für den Osten. Das ist ganz normal. Wenn sich ein großer Zusammenhang mit einem Kleinen zusammentut, dann ist der Große für den Kleinen viel bedeutsamer als andersherum.
Aber wenn der Osten auf sich aufmerksam macht, durch rechte Ausschreitungen, durch AfD-Erfolge, dann flammt das Interesse kurz auf, dann wird der Osten als problematisch, als Abweichung von der Norm dargestellt. Das meint Oschmann doch.
Ja, aber das ist nicht nur diskursiv hergestellt, sondern der Osten ist tatsächlich anders. Ich plädiere dafür, das anzuerkennen.
Werden Sie als Nestbeschmutzer beschimpft von Ostdeutschen, wenn Sie diese Fakten so knallhart benennen?
Nein, ich mache ja deutlich, dass die Ostdeutschen eben keine eingebildeten Kranken sind. Wenn Leute vor diesen Landkarten stehen und fragen: Sind die denn alle verrückt geworden, kann man sagen, nee, das sind Resultate von vielem, was in der Vergangenheit passiert ist.
Können Sie Oschmanns Zorn auf den Westen verstehen?
Ich finde ihn völlig unproduktiv, viele Beschreibungen sind überzogen. Etwa die Annahme, dass Ostdeutsche systematisch diskriminiert werden. Trotz ungleicher Chancen lässt sich das in der Breite nicht bestätigen. Da wiegen strukturelle Gründe schwerer.
Woher kommt denn dann aber der Mangel an ostdeutscher Elite?
Das hat damit zu tun, dass sie keine großen Unternehmen haben, keine großen Behörden.
Es gibt aber im Osten zum Beispiel mehr Theater als im Westen und trotzdem nur wenige ostdeutsche Theaterintendanten. Und Sie schreiben doch selbst, dass der Westen Formen der direkten Demokratie wie die Runden Tische als Bedrohung empfunden hat. Insofern hat der Westen Macht ausgeübt, die zu Diskriminierung geführt hat. Oder nicht?
Ich würde sagen, das hat etwas mit beruflicher Qualifikation und strukturellen Gelegenheiten zu tun. Und mit Netzwerken, die Ostdeutsche oft nicht haben, sodass für sie viele Türen verschlossen bleiben, die sich für andere öffnen. Wenn man kein Dax-Unternehmen im Osten hat, dann kann man nicht schon als Schüler oder Student ein Praktikum dort machen und das nächste dann in der Auslandsniederlassung in China. Diese Karrieren gibt es im Osten nicht. Im Milieu der kleinen Leute im Westen ist es ähnlich. Die Wahrscheinlichkeit, aus Gelsenkirchen in die westdeutsche Elite aufzusteigen, ist auch gering. Aber es ist nicht die Art von Diskriminierung, die Leute mit einer anderen Hautfarbe oder einem anderen Namen auf dem Wohnungsmarkt erfahren. Oder durch Polizeikontrollen auf öffentlichen Plätzen und Bahnhöfen. Das geschieht Ostdeutschen nicht.
Gehören Sie zu den westdeutschen Netzwerken?
Ich bin Professor an einer großen Universität und in vielen Gremien engagiert. Ich würde schon sagen, dass ich zur Elite gehöre.
Wie ist Ihnen das gelungen?
Zufälle und die richtige Förderung. Aber während meines Studiums ging es mir ähnlich wie anderen Ostdeutschen. Ich habe mich damals auf viele Stipendien beworben und bin nie eingeladen worden. Denn ich wusste gar nicht, wie das geht, kannte niemanden, der mir ein Empfehlungsschreiben geben konnte.
Die AfD bewirtschaftet das Benachteiligungsgefühl der Ostdeutschen. Welche Gründe gibt es noch für ihren Erfolg?
Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zur Demokratie in Ostdeutschland höher ist als im Westen, aber die Zahl der Mitglieder in den großen Parteien ist im Osten nur halb so groß. Sie sind dort mitgliedermäßig Kleinstorganisationen geblieben und nicht in der Lage, eine politische Kultur zu gestalten. Im Westen zehren sie dagegen immer noch von der Tradition als Volksparteien. Und Gewerkschaften, Verbände, Stiftungen, Kirchen sorgen dafür, dass Menschen politisch eingehegt werden. In Ostdeutschland ist 1989/90 das, was in diesem vorpolitischen Raum war, zusammengebrochen: die Betriebe, die Partei, die Massenorganisationen der DDR. In diesen Leerraum sind dann Rechte aus dem Westen reingegangen, auch weil sie im Osten Dinge machen konnten, bei denen sie im Westen auf starken Widerstand gestoßen wären.
Sie nennen die Ostdeutschen „Schnäppchenjäger“, was ihr Wahlverhalten angeht. Was genau meinen Sie damit?
Dass sie oft zwischen Parteien hin- und herspringen, die ideologisch gar nichts miteinander zu tun haben. Ein Wähler als Stammkunde geht immer in denselben Laden, selbst wenn die Preise sich ein bisschen ändern oder die Leuchtreklame kaputt ist. Ein Schnäppchenjäger ist nicht loyal, sondern reagiert auf Personen.
Auch auf Programme?
Eher auf emotionalisierte Ansprache, auf Stimmungen. Im Osten gab es mit Hartz IV eine erste Wählerenttäuschung, eine zweite mit der Migrationspolitikkrise 2015/2016 und zuletzt mit Covid 19, als viele Ostdeutsche in eine fundamentale Opposition zu den etablierten Parteien, aber auch zu anderen Institutionen getreten sind. Das kann man nur verhindern, wenn man eine Struktur hat, die solche Missstimmungen auffängt. Man muss ehrlich sein: In jedem SPD-Ortsverein in Bremerhaven oder Osnabrück saß in den 80er-Jahren jemand, den wir heute wegen seiner radikalen Meinungen und rassistischen Sprüche zu den AfD-Wählern rechnen würden. Aber die Leute waren in diesem Kontext eingehegt und über das Thema der Sozialpolitik an diese Partei gebunden.
Zu den Besonderheiten im Wahlverhalten der Ostdeutschen gehört, dass sich hier viele neue Wahlbündnisse gründen. Im Dresdner Stadtparlament sitzen jetzt 15 kleine Parteien. Wozu kann das führen?
Zu einer Fragmentierung des politischen Raums. Wenn wir alle nur auf Einzelinteressen zurückgeworfen werden, klammert man sich – wie die FDP – an Einzelpunkte. Schuldenbremse oder Tempolimit. Das ist sehr gefährlich, denn es stellt sich ja die Frage, wie man es schafft, etwas Verbindendes herzustellen. Je kleiner die Gruppe ist, desto schwieriger ist es, auch mal eigene Interessen zurückzustellen und einen Kompromiss zu finden.
Wenn man sich in Europa umschaut, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass Westdeutschland der Sonderfall ist, was die Stimmen für rechte Parteien angeht, oder?
Die Parteistrukturen sind überall im Umbruch, auch in Frankreich, in Italien. Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist eine Partei, die nur ein paar hundert Mitglieder hat und stark von oben kontrolliert wird und nun versucht, sich über mediale Präsenz und eine zentrale Person in der politischen Landschaft zu platzieren. Bei der AfD ist es andersrum. Die Partei hat bezogen auf die Bevölkerung doppelt so viele Mitglieder im Osten wie im Westen, aber sie funktioniert nicht so stark über spezifische Spitzenkandidaten.
Was ist mit Björn Höcke?
Selbst die Mehrheit der AfD-Wähler in Thüringen möchte den nicht als Ministerpräsidenten. Die Spitzenkandidaten für die Europawahl, Petr Bystron und Maximilian Krah, sind in übelste Skandale verwickelt. Und trotzdem ist diese Partei erfolgreich gewesen. Leute, die AfD wählen, halten dieser Partei die Treue, weil sie in Fundamentalopposition zu allen anderen Parteien steht.
Und das Bündnis Sahra Wagenknecht? Bekommt das auch deshalb so viel Zustimmung, weil es sich als ostdeutsche Partei profiliert?
Ja. Der Osten und der Westen scheinen sich gerade so weit auseinanderzuentwickeln wie noch nie. Die AfD bekommt im Osten doppelt so viele Stimmen wie im Westen, die Linkspartei ist im Westen nicht mehr existent, im Osten wird sie in der Regel noch zweistellig in die Landesparlamente kommen, dasselbe gilt für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Die Grünen und die FDP werden als Westparteien wahrgenommen und haben auch dort die meisten Unterstützer. In Sachsen und Thüringen droht selbst die SPD einstellig zu werden, das wäre schon eine irre Entwicklung. Nur die CDU schafft es im Osten wie im Westen auf 30 Prozent.
Ein Westberliner Bekannter sagte nach der Europawahl, er würde am liebsten die Mauer wieder aufbauen. Waren Sie an dem Abend selbst wütend auf den Osten?
Wütend ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber ich mache mir große Sorgen, was bei den Landtagswahlen im September im Osten passieren wird. Die AfD ist hier eine rechtsextremistische Partei mit Leuten, die mit Naziparolen um sich werfen. Ihr erklärtes Ziel ist, unsere liberale Demokratie umzubauen, wie die PiS-Partei in Polen und Viktor Orbán in Ungarn. Wenn sie stärkste Partei werden, können sie Ämter und Gerichte umbesetzen, werden in Aufsichtsgremien von Theatern, öffentlichen Unternehmen, Bildungsstätten, der Landeszentrale für politische Bildung sitzen. So etwas ist sehr schwer wieder zurückzudrehen.
Sie sagen, dass die Zustimmung zur Demokratie im Osten größer als im Westen ist. Heißt das, der Osten wählt gegen seine eigenen Interessen?
Die Ostdeutschen haben eine andere Vorstellung von Demokratie, da ist direkte Demokratie populärer und eben Wähler vom Typ Schnäppchenjäger. So nach dem Motto: Wenn für mich etwas dabei herauskommt, bin ich dabei. Wenn nicht, gucke ich mich nach etwas anderem um. Demokratie heißt hier oft: Der genuine Volkswille muss sich durchsetzen, sonst müssen die Regierenden zurücktreten oder Entscheidungen zurückgenommen werden. Aber so funktioniert eine parlamentarische Demokratie nicht. Eine Regierung ist auf Zeit gewählt und muss nicht auf jeden Druck von der Straße reagieren.
Im Westen sind mehr als vier Millionen Bürger nicht zur Wahl gegangen. Das zeigt, dass es auch dort Politikverdrossenheit gibt.
Die Probleme sind ähnlich, nur auf einem anderen Niveau. Die Fähigkeit von Parteien, Konflikte zu absorbieren und zu verarbeiten, ist stark abhandengekommen. Man sieht das an den Protesten der Landwirte. Unzufriedenheit sucht sich andere Bahnen, wie Wasser, das aus dem Flussbett ausbricht. Das ist eine Gefahr. Deshalb ist Demokratie für mich eine lernende Institution, die sich auch weiterentwickeln muss.
Aber besonders lernwillig zeigen sich die Politiker der Ampelregierung nicht. Wenn gebetsmühlenartig immer wieder die Parteiendemokratie beschworen wird, fühlen sich Ostdeutsche mitunter an die DDR erinnert.
Vielleicht ist der Druck für die Notwendigkeit solcher Veränderungen noch nicht so stark. Vielleicht ist der Osten da tatsächlich eine Pionierregion, von der der Westen mittelfristig lernen kann. Durch Pilotprojekte mit Bürgerräten zum Beispiel, wie ich sie in meinem Buch vorschlage. Klar, es würden dadurch andere Kanäle der Willensbildung neben den Parteien entstehen. Diejenigen, die die Parteiendemokratie verteidigen, müssen auch begründen, wie Parteien gesellschaftliche Stimmungen aufnehmen und produktiv verarbeiten können. Wie schafft man es, Beteiligung zu sichern und politische Selbstwirksamkeit herzustellen? Das sind Fragen, die man grundsätzlich an die Demokratie richten muss.
Glauben Sie, wütende Bauern oder AfD-Wähler lassen sich mit Bürgerräten besänftigen?
Rein auf der Straße lassen sich viele Probleme sicherlich nicht lösen. Bürgerräte sind eine Chance der Versachlichung und der Einbindung vieler Perspektiven. Beschlüsse, die daraus hervorgehen, müssten auf jeden Fall eine Verbindlichkeit haben. Und warum haben wir nicht noch eine dritte Kammer, wo Leute aus dem Bundestag, Bundesrat und durch Losverfahren gewählte Bürger darüber diskutieren, wie wir auf die Klimakrise reagieren. Oder mit Sterbehilfe umgehen. Der Vorteil ist: Diese Bürgerräte sind immun gegen Vorwürfe, das sei ein Elitekartell oder „die da oben“ hätten sich was ausgedacht.
Gibt es so etwas schon irgendwo?
In der Schweiz und auf kommunaler Ebene. In Irland wurde die Verfassung vom Bürgerrat überarbeitet und damit die Frage geklärt, wie in diesem katholischen Land der Schwangerschaftsabbruch geregelt werden soll. Sie haben einen Vorschlag erarbeitet, es gab eine Volksabstimmung, und die Mehrheit der Bevölkerung hat dem zugestimmt.
Was, wenn es für die Ostdeutschen eine Art Stunde null gäbe? Wie 1990. Damit sie die Vor- und Nachteile von demokratischen Prozessen selbst verstehen und annehmen?
Das ist ein großes Risiko. Dann stellt sich jeder mit seinen Forderungen auf die Straße, dann sind wir eine Einforderungs- und keine Mitwirkungs- und Kompromissdemokratie.
Es wäre wie 1990 mit all den Runden Tischen und Kommissionen.
Genau deshalb bin ich für Bürgerräte. Auch Menschen, die nicht zum Kern der Opposition gehörten, haben gute Erinnerungen an 1990. Es war wie ein politisches Aufwachen, Menschen haben sich als politische Subjekte verstanden, fanden die Dialogformate fantastisch, konnten das erste Mal offen und frei sprechen, Meinungen austauschen. Die 70 Prozent, die die AfD nicht wählen, wollen keine verhetzte politische Kultur, sondern Momente des Gelingens und Zusammenwirkens. Aber die finden keine Andockstation, und wir müssen sie vom Sofa holen.
Der ehemalige Ostbeauftragte Marko Wanderwitz hat gefordert, die AfD zu verbieten. Wie sehen Sie das?
Wenn im Osten, um den es bei seiner Forderung geht, 30 Prozent diese Partei wählen, löst man damit das Problem nicht. Denn es ist ja nicht weg. Man löst es am Schreibtisch, aber nicht in der Realität.
Die Leute würden sich ausgegrenzt fühlen und radikalisieren?
Ja womöglich, wir kennen das aus der Corona-Zeit. Als Leute, die sich nicht impfen lassen wollten, „Covidioten“ genannt, also kategorisiert und in die Ecke geschoben wurden. Heute wissen wir aus Studien, dass die Gründe, warum Leute sich nicht impfen lassen wollten, vielschichtig sind. Manche sind Wissenschaftsleugner oder Querdenker, aber es gibt auch welche, die chronische Krankheiten oder eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben und sich nicht gut informieren konnten. Wenn man einmal die Schublade aufmacht für „Covidioten“, dann werden sie auch zu welchen. Wenn die AfD verboten werden würde, könnte das auch zu Radikalisierung über das jetzt schon vorhandene Maß hinaus führen. Das muss man mitbedenken.
Auch die Wagenknecht-Partei wird oft in die rechte, undemokratische Ecke geschoben.
Ich sehe beim BSW nicht, dass hier die liberale Demokratie abgeschafft werden soll. Ich finde zahlreiche Positionen kritikwürdig, nicht zuletzt den Auszug aus dem Bundestag, als Wolodymyr Selenskyj gesprochen hat. Oder die kuschelnde Orientierung Richtung Putin und Russland. Aber das ist kein Kriterium, zu sagen, sie sind verfassungsfeindlich.
Über die Beziehung zu Russland in Ost und West wird viel diskutiert. Wo sehen Sie die Ursachen für die Unterschiede?
Wir sind durch die deutsche Einheit Teil eines größeren Staatswesens geworden und darum herumgekommen, uns von der Sowjetunion zu emanzipieren wie Polen oder die baltischen Staaten. Dort sind die Ängste, die nationale Souveränität wieder zu verlieren, größer. Ostdeutsche haben vielleicht auch eine idealisierte Vorstellung vom Vielvölkerstaat und dem friedlichen Zusammenleben der Sowjetunion. Während Westdeutsche Russland und die Sowjetunion als Feindbild sehen, weil sie damit groß geworden sind. Wir haben 1990 immer nur die deutsche Einheit diskutiert, aber nie die Mitgliedschaft in der EU oder in der Nato. Das rächt sich jetzt. Man hätte das breiter diskutieren müssen, um auch zu einem reiferen politischen Bewusstsein zu kommen.
Auch, weil die Medien alle in West-Hand gekommen sind?
Ja, die Ostdeutschen haben an vielen Diskussionen und Diskursen nicht teilnehmen können. Sie denken oft in ganz anderen Kategorien, das merke ich auch bei Diskussionsrunden immer wieder.
Ost-Identität galt lange als problematisch. Nun gibt es Ost-Stolz, auch Ost-Trotz und Stimmen, die sagen, zu seinen eigenen Wurzeln zu finden, sei wichtig. Wie sehen Sie das?
Man kann Parallelen zur migrantischen Erfahrung ziehen. Die erste Generation versucht, sich unsichtbar zu machen, die zweite und dritte greift stärker auf die Herkunft zurück. Auch können nachfolgende Generationen vielleicht unbefangener mit ihrer Identität umgehen als Menschen, die in der DDR erwachsen geworden sind, und für die nach dem Mauerfall die Anstrengung der Integration im Vordergrund stand und die auch Abstand gewinnen wollten von der DDR.
Wie war das bei Ihnen?
Ich war froh, dass ich da raus war.
Wann schlägt Ost-Stolz ins Nationalistische um?
Wenn man mental und ideologisch obdachlos wird, wie das nach dem Zusammenbruch der DDR der Fall war, greift man oft nach einem identitären Anker. Das äußert sich auch in einer nationalen Zugehörigkeit. Bei der Wiedervereinigung spielte die nationale Identität eine große Rolle: Brüder und Schwestern, Landsleute. Man suchte nach einer Ersatzlegitimation, die die demokratische Mitwirkung verdrängte. Wenn man Leuten sagt, der Grund, warum ihr zu uns gehört, ist eure Nationalität, muss man sich nicht wundern, warum sie das gegen andere, die dazukommen, Migranten und Asylbewerber, in Anschlag bringen und sagen, wir haben nationale Vorrechte, weil wir als Deutsche in diesen Staat gekommen sind.
Kann eine starke deutsche EM-Mannschaft die Stimmung im Land, das Zusammengehörigkeitsgefühl verbessern?
Das glaube ich nicht. 1990 gab es auch eine Aufwallung nationaler Gefühle. Man hat gedacht, wunderbar, wir sind Fußballweltmeister, das ist schon der halbe Weg zur inneren Einheit. Aber das war eine Schimäre, weil die strukturellen Unterschiede einfach viel zu groß waren.