Mit dieser Sparmaßnahme steht nicht nur ein weiteres Theater vor dem Aus, sondern sie wird ganz konkret die Sicherheit in unserer Stadt beeinflussen. Wie das seit vielen Jahren erfolgreiche, international renommierte Knasttheaterprojekt „Aufbruch“ mitteilt, will ihm die Senatsverwaltung für Justiz 70 Prozent seiner Zuschüsse streichen. „Aufbruch“ arbeitet in drei Berliner Haftanstalten, bindet Menschen aller Altersgruppen, unterschiedlicher sozialer und kultureller Milieus sowie Sprach- und Bildungsniveaus in künstlerische Projekte ein und macht mit großem Erfolg die Ergebnisse dieser Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich.

Diese Sparmaßnahme ist eine sozial- und kriminalpolitische Bankrotterklärung des Berliner Senats. Denn aus fachlicher, kriminalpräventiver Sicht wissen wir eines sehr ganz genau und zwar schon lange: unzureichende politische Bemühungen um gruppenbezogene Integration, sozialen Ausgleich, Chancengerechtigkeit und Bildungszugang gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt und können das Gewaltniveau bis hin zu eruptiver Gruppengewalt steigen lassen.

Das Theaterprojekt ist seit 27 Jahren wichtiger Teil der Wiedereingliederungs- und Behandlungsbemühungen für straffällige Menschen im Berliner Justizvollzug. Und nein, es geht dabei nicht nur um die Täter: Jede einzelne gelungene Resozialisierung bedeutet Opferschutz. Ein Täter, der in einer besseren Verfassung aus dem Strafvollzug entlassen wird, als er hereingekommen ist, wird seltener rückfällig. Weniger Rückfälle bedeuten weniger Opfer auf Berlins Straßen, bedeuten auch weniger Trauer und Traumatisierung bei Eltern, Geschwistern, Großeltern, Lehrerinnen, Kollegen, Nachbarn. Straftaten wirken systemisch, sie betreffen immer eine ganze Gruppe von Menschen. Und am Ende uns alle.

Seit 13 Jahren ohne Straftat

Was das Theaterprojekt leisten kann, habe ich in meiner ambulanten Arbeit mit Straffälligen immer wieder persönlich erlebt. Vor ein paar Wochen erst bekam ich eine E-Mail von Klaus (Name geändert). Er schrieb mir: „Liebe Grüße, mal wieder eine Nachricht von mir. Ich bin jetzt seit 13 Jahren entlassen und ohne Straftat. Seit zehn Jahren glücklich verheiratet und ich arbeite. Jetzt bewache ich übrigens Kunst. Ist jetzt mein Beruf. Nennt sich ‚Kunstbewachung‘. Viele Grüße!“

Der Kunstbewacher war mal ein sehr gefährlicher Mann, der vielfältige, auch sehr grausame Straftaten begangen hat. Ich traf ihn zum ersten Mal in einem schmalen Kellerraum des alten Zuchthausgebäudes der JVA Tegel. Er hatte fast 40 Jahre eingesessen. Die Prognose, dass er es draußen schaffen könnte, war angesichts seiner kriminellen Vorgeschichte vorsichtig gesagt sehr schlecht. Er hatte sich selbst damit abgefunden, dass er das Monster ist, für das er gehalten wird und wollte selbst nicht mehr raus. Wer denkt, dass das eine gute Idee wäre, dem sei gesagt: Ein Haftplatz kostet in Deutschland im Durchschnitt 150 Euro pro Tag. Sparen geht anders.

Klaus war fast lebenslang inhaftiert, da kann etwas passieren, das man „Kolonisierung“ nennt. Der Knast wird zum Zuhause. Nach so vielen Jahren hinter Gittern bist du niemand mehr, du kennst niemanden mehr, du hast nichts mehr in der Welt da draußen. Das heißt auch, du hast nichts zu verlieren. Und das ist eine sehr schlechte Ausgangslage. Es geht so weit, dass du draußen was machst, nur um wieder reinzukommen.

Was soll ich über das Leben von Klaus erzählen? Über den giftigen Cocktail aus Armut, Prügel, Heimen, Obdachlosigkeit, Suff und Gewalt? Seine alten Jugendamtsakten aus den Siebzigern führten ihn als „umhertreibenden männlichen Fürsorgezögling“. Die Welt war für ihn vom ersten Tag an ein feindseliger Ort. Ein Ort, an dem Fürsorge und Verbindung nicht zu erwarten ist, man jederzeit angegriffen werden kann und nur das bekommt, was man sich von anderen nimmt.

Das zu wissen, machte Klaus nicht ungefährlicher. Er hatte, bis ich ihn traf, in seinem ganzen Leben nicht gelernt, Verantwortung zu übernehmen, sich anzustrengen, selbständig große und kleine Ziele zu setzen, sich zu strukturieren, zu kontrollieren, seinen Tag zu gestalten, leistungsfähig zu sein, Interessen zu entwickeln, Konflikte zu klären, Beziehungen einzugehen und zu beenden. Wo andere ihre „soft skills“ haben, klaffte bei Klaus ein großer schwarzer Abgrund.

Ich hoffte auf ein Wunder angesichts seiner in einem Jahr bevorstehenden Entlassung. Er erzählte mir, dass ihm die Leute von dem Projekt, bei dem er jetzt mitmachte, das Leben in Freiheit zutrauten. „Na, die kennen mich eben noch nicht“, fügte er hinzu. Und ich dachte, vermutlich hat er recht.

Nur ein halbes Jahr später baute er sich in dem Kellerraum vor mir auf und zitierte voller Stolz verschachtelte Sätze aus Kleists Kohlhaas. Er schimpfte über einen Kollegen, schwärmte von der Regieassistentin, musste – entgegen seiner sonstigen Gewohnheit – lernen, um Hilfe zu bitten. Er – der Gewalttäter – machte sich kurz vor dem Auftritt fast in die Hosen vor Angst und strahlte, als er mir von dem Applaus erzählte.

Das alles hätte ich mit meinem Psycho-Kram allein nicht so schnell hinbekommen. Dieses Theaterprojekt war Teil der Rettung von Klaus. Es hat ihm Hoffnung, Selbstsicherheit, Freude und Sinn gegeben und besagte Soft Skills noch dazu.

Eine der wichtigsten Theorien zur Straftäterresozialisierung ist das „Good-Live-Model“ nach Tony Ward. Es beruht auf Erkenntnissen der positiven Psychologie. Danach werden Menschen unter anderem dann kriminell, wenn ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt bleibt. Teilhabe ist mehr als eine Floskel, die durch Politikerreden geistert. Es handelt es sich um bedeutsame persönliche Beziehungen und die Einbindung in eine Gemeinschaft über Kreativität, Wissen, Sinnhaftigkeit, Arbeit und Spiel. Das Fehlen all dessen macht Kriminalität wahrscheinlicher.

Das Theaterprojekt erwischt von diesen Faktoren gleich sieben auf einen Streich. So wie bei Klaus. Und wenn nur fünf Gefangene mit der Teilnahme in verbessertem Zustand ein halbes Jahr früher entlassen werden können, hat man die 200.000 Euro, die das Projekt von der Justiz braucht, locker wieder drin.

Entfremdung, Sinnlosigkeit, Armut, Einsamkeit, Betäubung durch irgendwelche Substanzen. Das ist der giftige Cocktail, der Gewalt erzeugt. Verbindung zu anderen Menschen, Verbindung zur Welt der Kunst, zu einem Publikum, die Fähigkeit zu spielen und zu leisten ist eines der Gegengifte. Das Theaterprojekt „Aufbruch“ bringt dieses Gegengift dahin, wo es am nötigsten ist.

Andere Sichtweisen akzeptieren

Wer eine Rolle darstellen will, muss sich in einen anderen Menschen einfühlen können. Einen Text zu lernen, bedeutet, sich anstrengen zu lernen. In einem Ensemble zusammenzuarbeiten, bedeutet, unterschiedliche Meinungen auszuhalten, andere Sichtweisen zu akzeptieren und Konflikte zu klären. Sich vor ein Publikum auf eine Bühne zu stellen, bedeutet, Angst auszuhalten, sich beruhigen zu lernen. Applaus zu bekommen, bedeutet, sich als ein wertvoller Teil dieser Welt fühlen zu können. Das ist Kriminalprävention und das können Gespräche mit einer Handvoll Sozialarbeiter und Psychologen niemals ersetzen.

Wir alle brauchen Kunst. Wir brauchen Kunst, um am Leben teilzuhaben. Jeder, der einen Verlust erlitten hat, und den die Musik getröstet hat, weiß es. Jeder, der vor Liebe nicht geradeaus laufen konnte und sich an einem Gedicht festgehalten hat, weiß es. Jeder, der ein Theaterstück sah und sich in seinem eigenen Lebensdrama nicht mehr allein fühlen musste, weiß es. Kunst verbindet und überwindet die Schranken zwischen den sozialen Schichten und zwischen Täter- und Opfersein. Kunst heilt.

Deshalb muss sie unbedingt auch zu den Menschen, die am wenigsten haben. Sie muss in die Knäste, die Heime und die Kliniken. Das ist aktiver Schutz vor erneuten Gewalttaten. Man erkennt die Menschlichkeit einer Gesellschaft am Umgang mit den Gefallenen und Gescheiterten. Wer an diesem Theaterprojekt spart, spart nicht nur an unserer Sicherheit, sondern auch an unserem Humanismus.


Karoline Klemke ist Psychologin und approbierte Psychotherapeutin, die viele Jahre im Maßregelvollzug tätig war. Zuletzt erschien ihr Roman „Totmannalarm. Begegnungen mit Straftätern“