Die Ankündigung des russischen Präsidenten vom 25. März 2023, taktische Atomwaffen in Belarus zu stationieren, ist eine demonstrative sicherheitspolitische Provokation gegenüber den westlichen Unterstützern der Ukraine.

Dieser Zug Putins ist ein besorgniserregendes Zeichen für die sich drehende Konfrontationsspirale zwischen den USA bzw. der Nato und Russland. Beschwichtigende Interpretationen in westlichen Medien, dass es sich bloß um einen weiteren Versuch der politischen Erpressung und Spaltung der Nato-Staaten handle, greifen zu kurz. Moskau verabschiedet sich hier von der Praxis der vergangenen Jahrzehnte, Nuklearwaffen ausschließlich auf russischem Staatsgebiet zu dislozieren. Die Vorwärtsstationierung taktischer Atomwaffen in Belarus ist ein nuklearstrategischer Schachzug, der nicht überraschen sollte.

Kein Gamechanger

Die russischen Landstreitkräfte sind durch den erfolgreichen Abwehrkampf der ukrainischen Armee mithilfe westlicher Waffensysteme auf Jahre hinaus personell und materiell geschwächt. Vor diesem Hintergrund war absehbar, dass Moskau die in hoher Stückzahl verfügbaren nichtstrategischen (taktischen) Atomwaffen in den Vordergrund seiner Sicherheits- und Abschreckungsdoktrin rücken würde. Neben den Atomwaffen in der durch die Nato leicht blockierbaren Enklave Kaliningrad verschafft sich Russland mit der Dislozierung in Belarus graduelle Reichweitenverbesserungen für seine nukleare Zielplanung gegen Europa.

Die vorgeschobene Stationierung taktischer Atomwaffen ist zwar keinesfalls ein Gamechanger im Kräfteverhältnis der Nato gegenüber Russland. Brisant ist vor allem der Zeitpunkt der Entscheidung, mitten im russischen Krieg gegen die Ukraine. Daher ist Moskaus Analogie zu den vergleichsweise wenigen in Europa gelagerten Atombomben im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ nicht stimmig. Die USA bzw. die Nato haben zu keinem Zeitpunkt Russland mit Atomwaffen gedroht.

Dieser Vorgang zeigt, dass die Atomwaffen längst wieder auf die Vorderbühne der internationalen Sicherheitspolitik zurückgekehrt sind. Kernwaffen werden angesichts der ausgreifenden russischen Politik seit 2014 auch in der Nato wieder stärker ins Kalkül gezogen. Spätestens seit der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 geistert der diffuse Begriff des „nuklearen IQ“ durch Teile der westlichen Thinktank-Community. Bis auf Weiteres ist unklar, welchem Zweck diese Formel dienen soll. Handelt es sich etwa im Blick auf die neue konfrontative europäische Sicherheitsordnung um die intellektuelle Vorbereitung einer neuen Nachrüstungsdebatte?

Oder ist „nukleare Intelligenz“ eine Metapher für ein vertieftes Wissen und Urteilsfähigkeit über die Denksysteme und Kalküle in den Abschreckungsstrategien der Atommächte, insbesondere im Blick auf die erweiterte Abschreckung der USA für Nato-Europa? Die aktuelle deutsche Debatte über den Umgang mit den Atomdrohungen Putins wird auf bedenkliche Weise leichtfertig und oberflächlich geführt, sodass mehr Sachverstand über die deklaratorischen und operativen Nuklearstrategien in der Tat dringend notwendig erscheint.

Am Anfang jeder vertieften Beschäftigung mit Nuklearstrategien muss die humanitäre Dimension stehen, das Wissen um die Wirkung von Atomwaffenexplosionen, insbesondere der extremen physischen Vernichtungskraft durch Hitze- und Druckwellen, sowie die extrem langfristig wirkende radioaktive Strahlung auf Menschen und Natur.

In Abhängigkeit von der Zahl der eingesetzten Sprengköpfe, der Detonationswerte und Explosionshöhen ergeben sich Vernichtungsgrade bis hin zur Auslöschung des Lebens in großen geografischen Räumen. Atomwaffen und nukleare Zielplanung dienen freilich in erster Linie Abschreckungszwecken. Die Abschreckungsstrategien haben indessen eine dunkle Seite. Diese besteht in dem realen Risiko, dass die Abschreckung versagt, dass Atomwaffen in einem Krieg eingesetzt werden, mit potenziell apokalyptischen Folgen vor allem für höchst verwundbare Industriegesellschaften.

Gerade für die Gefahr eines mit Atomwaffen geführten Krieges muss die allgemeine Risikodefinition gelten. Die Risikohöhe ergibt sich aus dem Produkt von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe. Hieraus folgt, dass selbst bei einer als gering eingeschätzten Eintrittswahrscheinlichkeit eines durch Russland vom Zaun gebrochenen Atomkriegs das Vernichtungsrisiko für Europa als relativ hoch einzuschätzen ist. Dies sollten sich Kommentatoren vor Augen führen, die glauben, Putins Kalküle zu kennen und zu wissen, dass eine nukleare Eskalation höchst unwahrscheinlich ist.

Nuklearstrategische Kompetenz erfordert eine profunde intellektuelle Auseinandersetzung mit den Annahmen und Kalkülen in den Maschinenräumen der nuklearen Planer. Nur sehr wenige wissenschaftliche Autoren publizieren dazu im deutschsprachigen Raum profunde Analysen.

Nukleare Abschreckungsstrategien sind nicht mit empirischen Wissenschaften vergleichbar. Sie bestehen aus pragmatischen Überlegungen und Kalkülen, die auf Annahmen über die Rationalität und das Entscheidungsverhalten der gegnerischen Nuklearmacht basieren. Nuklearstrategische Kalküle sind letzten Endes Glaubenssysteme. Sie ähneln dogmatisch-theologischen Gedankengebäuden und fußen auf politisch-psychologischen Annahmen wie der des in jeder Extremsituation vernunftbegabten Gegenspielers, der seine Affekte verantwortungsbewusst unter Kontrolle hat.

Die erweiterte Abschreckung der USA für Nato-Europa, der sogenannte „atomare Schutzschirm“, bleibt auch in der absehbaren Zukunft unabdingbar für die europäische Sicherheit. Auch die damit verbundenen Unwägbarkeiten und Dilemmata gelten allerdings fort. Wenn die Abschreckung vor dem gegnerischen Einsatz von Atomwaffen in Europa versagen würde, bestünde das beträchtliche Risiko, dass durch eine Spirale von Atomschlägen und Gegenschlägen vernichtet wird, was verteidigt werden soll.

Im Pentagon werden seit einigen Jahren Konzepte einer „conventional-nuclear integration“ verfolgt, also einer konventionell-nuklearen Integration. Dahinter verbergen sich flexiblere nukleare Einsatzoptionen, bei denen nichtstrategische Atomwaffen als Kriegsführungswaffen verstanden werden. In Computersimulationen mit dem Label „Integrated Nuclear and Conventional Theater Warfare Simulation“ (Deutsch: Integrierte nukleare und konventionelle Kriegsführungssimulation) werden Kriegsszenarien unter Einbeziehung von Atomwaffen durchgespielt.

„Theater“ bedeutet hier eine Weltregion wie z.B. das „European Theatre“, das europäische Gefechtsfeld. Mit diesen Trends in der amerikanischen – wie vermutlich ebenso in der russischen – Nuklearstrategie korrespondieren neue, extrem zielgenaue Atomwaffen, die über relativ kleine atomare Sprengwirkungen („low yield“) verfügen. Die dunkle Kehrseite dieser strategischen Konzepte ist das Denken in atomaren Kriegsführungskategorien – mit der unvermeidlichen Folge, dass Atomwaffen als erweiterte Einsatzmittel im konventionellen Gefecht betrachtet werden. Der gravierende Qualitätssprung zwischen konventionellen und atomaren Waffen wird damit verkleinert.

Die amerikanische Regierung postuliert hingegen, dass die Abschreckung auf diese Weise glaubwürdiger werde. Die verheerenden Konsequenzen einer nicht auszuschließenden Kriegsführung mit Atomwaffen in Europa – einschließlich der logistischen Drehscheibe Deutschland – werden dabei ausgeblendet. Vorstellungen einer integrierten konventionell-nuklearen Kriegsführung in Europa liegen nicht im deutschen Interesse. Eine Nuklearisierung der Abschreckung und Verteidigung in der Nato über die bisherigen Strukturen und Planungen hinaus sollte auf jeden Fall vermieden werden. Ein Thema, das neben vertraulichen und vertrauensvollen bilateralen Kontakten zwischen Berlin und Washington in die nukleare Planungsgruppe der Nato gehört.

Das der Nato auf Jahre hinaus im Bereich konventioneller Waffen unterlegene Russland verfügt im Verhältnis zu den im Rahmen der nuklearen Teilhabe in Europa gelagerten Atombomben über das etwa zehnfache Potenzial an nichtstrategischen (taktischen) Atomwaffen, ca. 1800 Kernwaffen. Es ist denkbar, dass früher oder später, ähnlich wie im Kalten Krieg Ende der 1970er-Jahre, in der Nato eine Debatte über eine „Lücke“ im Spektrum der erweiterten Abschreckung der USA für Europa entsteht; mit dem Ziel einer Nachrüstung etwa mit neuen amerikanischen Hyperschall-Mittelstreckenwaffen. Solche „Long-Range Hypersonic Weapons“ werden für Heer, Marine und Luftwaffe in den USA entwickelt bzw. eingeführt.

Eine Debatte über die Dislozierung von Hyperschallwaffen auf europäischem Boden im Rahmen der Nato oder gar bilateral würde die bisherige Geschlossenheit der Allianz infrage stellen. Es verbietet sich zudem, bei Atomwaffen Kräftevergleiche wie bei konventionellen Waffensystemen anzustellen, denn Nuklearwaffen sollten niemals als Kriegsführungswaffen verstanden werden. Sinnvoller und konsensfähig ist demgegenüber die Verdichtung der Flug- bzw. Raketenabwehr im Rahmen der Nato, einschließlich Raketenabwehrsystemen, die russische Hyperschallwaffen neutralisieren können. In den USA werden solche Abwehrwaffen auf der Basis von Hochenergielasern entwickelt.

Die Bundesregierung hat mit der Zeitenwende-Entscheidung, moderne nuklearfähige F-35-Kampfflugzeuge in den USA zu kaufen, die deutsche nukleare Teilhabe im Rahmen der Nato-Abschreckung bekräftigt. Deutschland wird mit diesen Kampfflugzeugen wesentlich zur Stärkung der bisherigen Abschreckung der Nato beitragen, ein Akt der transatlantischen Risiko- und Lastenteilung. Ambitionen Warschaus, sich vermehrt in die nukleare Teilhabe im Rahmen der Nato einzubringen, würden die Abschreckung der Nato nicht stärken.

Indessen kann europäische Sicherheit auch künftig nicht durch Abschreckung und Verteidigungsvorbereitungen allein erreicht werden. Die zu wesentlichen Teilen noch im Kalten Krieg mühsam aufgebaute Rüstungskontrollarchitektur mit Rüstungsbegrenzungen und vertrauensbildenden Maßnahmen ist kollabiert. Die stabilisierende Rolle der Rüstungskontrolle ist damit praktisch ganz verloren gegangen. Neue politische oder gar rechtlich bindende Rüstungskontrollabkommen sind auf absehbare Zeit unrealistisch.

Gesprächskanäle offen halten

Diplomatische und militärische Gesprächskanäle zwischen Moskau und den Nato-Staaten sollten trotz aller Gegensätze offen gehalten werden, vor allem um Fehlwahrnehmungen und gefährliche Zwischenfälle zu vermeiden. Militärische Vereinbarungen zur Risikoreduzierung, wie z.B. Verhaltenskodexe und Regeln zur Verhinderung von Zusammenstößen, sind nicht neu. Sie wurden teilweise im Kalten Krieg entwickelt und sollten erneuert werden, um Eskalationsspiralen zu verhindern.

Die berechtigte politisch-moralische Entrüstung über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine darf das Beschreiten von Wegen nicht blockieren, die weit Schlimmeres verhindern.

Helmut W. Ganser, 74, ist Brigadegeneral a.D. Der Diplom-Psychologe und Politologe war

unter anderem Stellvertretender Leiter der

Stabsabteilung Militärpolitik im Verteidigungsministerium in Berlin, Dozent für Strategie an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg sowie militärpolitischer Berater der deutschen Ständigen Vertreter bei der Nato in Brüssel und bei den Vereinten Nationen in New York.