Mittwoch, 1. Oktober 2025, Berliner Zeitung
Angriff auf die Gehirne
Drohnen über Polen: Die bisher heftigste Attacke auf ein Nato-Land kam gar nicht aus der Luft. Es ging vor allem um Propaganda
Klaus Bachmann
Russische MIG-31, die zwölf Minuten lang den estnischen Luftraum unsicher machen, mit ausgeschaltetem Transponder und ohne auf Signale zu reagieren, unbekannte zivile Drohnen, die für Stunden die Flughäfen in Kopenhagen und Oslo lahmlegen, und schließlich ein Angriff mit ungefähr 20 militärischen Drohnen auf Polen in der Nacht zum 10. September. Niemand weiß, was das alles bedeuten soll. Ist das ein Angriff auf Nato-Mitglieder? Wie soll man darauf reagieren?
Verunsicherung überall – und wie immer, wenn Menschen verunsichert sind, verlangen sie radikale, autoritäre Maßnahmen: draufhauen, bestrafen, abschießen. Seither wird darüber diskutiert, ob man, wie die Türkei im November 2015, russische Kampfjets bei Verletzungen des Luftraums einfach abschießen sollte. Natürlich könnte man die Einsatzregeln für Nato-Abfangjäger entsprechend ändern, diese Änderung der russischen Regierung kommunizieren und dann danach handeln. Die Frage ist nur: Ist die Sache es wert? Dabei geht es gar nicht nur um die mögliche russische Reaktion und darum, dass Russland damals einen Wirtschaftskrieg gegen die Türkei begann, an dessen Ende sich Erdogan bei Putin entschuldigte.
Als die Sowjetunion 1962 eine amerikanische U-2 über Kuba abschießen ließ, war das riskant, aber rational: Die U-2 drohte die Standorte der sowjetischen, auf die USA gerichteten Raketen auf Kuba zu entdecken. Beide Seiten vertuschten den Vorfall, weil sie eine Eskalation verhindern wollten, aber auch, weil jede Seite erkannte, dass die andere so handeln musste, wie sie gehandelt hatte.
Die Frage heute ist: Welchen Vorteil Russlands würde das Abschießen einer MIG-31 über Estland zunichte machen? Was erfährt Russland durch einen solchen Überflug, was es nicht genauso gut (oder besser) mithilfe von Satellitenaufklärung herausfinden kann? Nichts, außer Details über den Entscheidungsprozess und die Reaktionszeit seiner Gegner.
Enormes Risiko
Hinzu kommt: Gegen die anderen Bedrohungen und Provokationen kann man gar nicht zurückschlagen. Wer zivile Drohnen über einem Flughafen abschießt, fühlt sich vielleicht besser und bekommt eine Menge Beifall, aber er geht ein enormes Risiko ein. Eine Drohne für ein paar Tausend Euro, die auf ein Flughafengelände fällt, verursacht dort unter Umständen einen Millionenschaden. Man sollte nicht vergessen: Solche Aktionen heißen Provokationen, weil sie etwas provozieren wollen. Der Gegner soll sich durch eine übertriebene, emotionale Reaktion selbst ins Unrecht setzen. Die Debatte zeigt: Das funktioniert bestens.
Nichts demonstriert das besser als der bisher größte Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland, der bisher auch die meisten Rätsel aufgibt – das Eindringen von circa 20 Drohnen in den polnischen Luftraum in der Nacht zum 10. September. Wollte Russland damit die Nato-Luftabwehr testen? War das Ganze ein Unfall, ausgelöst von unvorsichtigen Teilnehmern des Zapad-Manövers in Belarus? Wurden die Drohnen von der ukrainischen Flugabwehr absichtlich nach Polen gelenkt, um so den Kriegseintritt der Nato zu provozieren?
Eine genaue Analyse des Ablaufs zeigt: Ja, das war tatsächlich ein gezielter russischer Angriff auf ein Nato-Mitgliedsland. Nur kam er überhaupt nicht aus der Luft, und er begann auch nicht am Abend des 9. September. Gerade Deutschland kann eine Menge aus diesem Vorfall lernen, obwohl es auf den ersten Blick gar nicht betroffen ist.
Die ganze Geschichte beginnt eigentlich viele Monate früher, mit dem Aufstieg zweier explizit antiukrainischer Parteien, deren Kandidaten bei den polnischen Präsidentschaftswahlen mehr als 20 Prozent der Stimmen holen und von den anderen Kandidaten deshalb eifrig hofiert werden. Noch im Wahlkampf verkündet selbst der liberale Spitzenkandidat, der Warschauer Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski, er werde den nach Polen geflohenen Ukrainern das Kindergeld wieder wegnehmen, wenn sie keiner geregelten Arbeit nachgingen.
Man erkennt da gewisse Parallelen zu Unionsforderungen in der Bundesrepublik, muss dabei aber berücksichtigen, dass prozentual viel mehr Ukrainer in Polen in Arbeit sind als in Deutschland und solche Kürzungen deshalb weit weniger Menschen betreffen. Das Entscheidende ist etwas anderes: Die Regierenden benennen damit einen Sündenbock für die enorme Staatsverschuldung und die Einschränkungen bei Sozialleistungen, die durch die Erhöhung der Verteidigungsausgaben notwendig werden. Seither läuft an der Weichsel eine Art Wettlauf unter den Parteien, wer heftiger auf die etwa eine Million in Polen lebenden Ukrainer einschlägt – obwohl der Dienstleistungssektor ohne sie zusammenbrechen würde.
Als bei einem Konzert eines belarussischen Rappers im Warschauer Nationalstadion einige Teilnehmer etwas über die Stränge schlugen und eine kleine Gruppe nationalistische ukrainische Symbole schwenkte, griffen die Behörden durch. Premier Donald Tusk höchstpersönlich kündigte Deportationen an, und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurden 63 Belarussen und Ukrainer sofort abgeschoben. Tusk nannte das Ganze eine russische Provokation; man kann sich aber fragen, ob er damit nicht genau einer solchen aufgesessen ist.
Etwa seit dem Jahr 2023 verschlechtert sich das Verhältnis der Polen zu Ukrainern und der Ukraine rapide. Von der anfänglichen Ukraine-Begeisterung des Frühjahrs 2022 ist so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Das hat auch Folgen für die Haltung der Polen zum Krieg: Schon Ende vergangenen Jahres gab es mehr Befragte, die für einen schnellen Frieden mit territorialen Konzessionen waren, als solche, die die Ukraine weiterhin bedingungslos unterstützen wollten.
Paradoxer Nebeneffekt: Je weniger Flüchtlinge nach Polen kommen, desto heftiger sind die Polen gegen ihre Aufnahme. Die regierungsamtlich verbreitete Ausländerfeindlichkeit bereitete den Boden für eine der größten und erfolgreichsten russischen Propagandakampagnen der vergangenen Jahre. Putin musste nur noch ernten, was Polens Regierungen gesät hatten.
Am späten Abend des 9. September um 23.30 flog die erste Drohne in den polnischen Luftraum. Bis 6.37 Uhr kamen dann noch ungefähr 19 weitere. Wie viele und welche Drohnen genau wohin geflogen sind, ist bis heute nicht bekannt gegeben worden. Einige hätten den polnischen Luftraum wieder verlassen, heißt es, andere seien abgestürzt. Kampfflugzeuge, die in Polen im Rahmen des Nato- Air-Policing stationiert sind, stiegen auf und schossen mehrere Drohnen ab.
General Wieslaw Kukula, der Chef des Generalstabs, erklärte auf einem rechtslastigen Internetsender, man habe bewusst nicht alle abgeschossen, sondern nur diejenigen, die eine Gefahr darstellten. Seither ist in Polen nichts mehr, wie es war.
Die Regierung beantragte Beratungen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags, die Nato beorderte zusätzliche Flugzeuge zum Air Policing nach Polen, vor dem UN-Sicherheitsrat präsentierte der polnische Botschafter Bilder eines während des Drohneneinfalls zerstörten Hauses in Ostpolen. Die Massenmedien diskutieren über die Einrichtung von Luftschutzkellern, Gemeinden lassen sich in Zivilschutz trainieren, und einfache Bürger kaufen sich Evakuierungsrucksäcke. Ein Land bemerkt, dass es seit drei Jahren im Krieg ist.
In der allgemeinen Panik werden aber wichtige Details übersehen. Auf die Drohnenattacke angesprochen sagte Kremlsprecher Dmitry Peskov, sonst nie um eine Antwort verlegen, erst einmal gar nichts: „Wir wollen das nicht kommentieren. Das liegt in der Kompetenz des Verteidigungsministeriums.“ Offenbar war auch der Kreml überrascht. Das Verteidigungsministerium dementierte, Polen mit Drohnen angegriffen zu haben, und bot Warschau sogar Konsultationen darüber an. Das war ungewöhnlich konziliant. Noch am 10. September erklärte der russische Geschäftsträger in Warschau, Russland habe mit den Drohnen nichts zu tun, „die stammen aus der Ukraine“. Das war kein Ausrutscher.
Noch während des Anflugs der Drohnen begann eine umfangreiche Propagandaaktion, die darauf abzielte, die Ukraine anzuprangern. Die Grundthese: Die Drohnen seien nur deshalb nach Polen geflogen, weil sie von der ukrainischen Flugabwehr so umgelenkt worden seien. Auf Facebook, X, Instagram und TikTok tauchten gleichlautende Sprechblasen auf anonymen Konten auf, die danach von zahlreichen echten Social-Media-Nutzern eifrig weiterverbreitet wurden, bis sie bei Influencern mit Zehn- und Hunderttausenden von Followern landeten. Aus dem Strom wurde noch in der Nacht des 10. September ein Tsunami. Er war so groß, dass er schon lange vor dem Abflug der ersten Drohne geplant sein musste.
Michał Fedorowicz, Vorsitzender des Warschauer Instituts für Internet- und Soziale-Medien-Forschung, hat 200.000 Social-Media-Posts zu der Drohnenattacke ausgewertet. Das Ergebnis: 38 Prozent davon machten die Ukraine verantwortlich, 15 Prozent die polnische Regierung, 8 Prozent die Medien und 5 Prozent die Nato beziehungsweise „den Westen“. Nur 34 Prozent sahen die Schuld bei Russland. Der entscheidende Punkt dabei: Viele der Konten, die die Lawine losgetreten hätten, seien „ukrainische oder ukrainisch aussehende Konten gewesen“. Das habe bei den authentischen Nutzern den Eindruck bestätigt, das Ganze sei eine „False Flag“-Operation der Ukraine gewesen.
Inzwischen haben polnische Militärs bekannt gegeben, von ukrainischen und belarussischen Stellen vor anfliegenden Drohnen gewarnt worden zu sein, was der These, hinter allem stecke die Ukraine, den Wind aus den Segeln nimmt.
Der private Warschauer Nachrichtendienst OKO Press hat die Inhalte untersucht. Sein Fazit: Polen wurde doppelt angegriffen, aus der Luft und im Internet. Besonders eifrig dabei waren rechte und rechtsradikale Politiker, die sich als Lautsprecher für russische Propagandaklischees betätigten, weil sie zu ihrer antiukrainischen Haltung passten.
Den Verdacht, die Ukraine stecke hinter den Drohnen, konnte die Regierung einigermaßen entkräften. Aber durch ihre zögerliche und verspätete Reaktion sind Medien und Militärs jetzt im Verteidigungsmodus. Sie müssen es jetzt mit einer populär gewordenen Verschwörungstheorie aufnehmen, die auf weit verbreiteten, antiukrainischen Vorurteilen aufbauen kann – sowie auf schlechte Beispiele, die eine frühere Regierung selbst geliefert hat.
Im November 2022 starben etwa in dem ostpolnischen Dorf Przewodów zwei Personen, als Teile einer S-300-Luftabwehrrakete auf einen Bauernhof fielen. Was zuerst ebenfalls wie eine russische Attacke aussah, erwies sich als misslungener Versuch der ukrainischen Armee, einen russischen Angriff abzuwehren. Dabei fielen Teil eines ukrainischen Geschosses auf den Bauernhof, was die damalige Regierung Morawiecki nur ungern zugab.
Jetzt beging die Regierung einen ähnlichen Fehler: Die Trümmer auf dem Foto, das ihr Botschafter bei der Uno herumzeigte, gingen nicht auf eine russische Drohne, sondern auf das fehlgeleitete Geschoss einer norwegischen oder niederländischen F-35 zurück, die zur Drohnenbekämpfung eingesetzt war, berichteten die Medien. Inzwischen gibt es auch Berichte, wonach eine polnische F-16 dafür verantwortlich sein soll. Auch da weiß man nichts Genaues, die Behörden schweigen.
Indiskretionen der Ermittler
Das Geschoss zerstörte das Dach eines Gehöfts, ohne zu explodieren. Auch das weiß man nur durch Indiskretionen der Ermittlungsbehörden. Inzwischen hat sich der Konsultativrat für Internationale Desinformationsresilienz beim Außenminister zu Wort gemeldet und forderte in schönstem Bürokraten-Polnisch die Bevölkerung auf, russischer Desinformation keinen Glauben zu schenken. Aber auf die Fragen, die die Öffentlichkeit umtreiben, gibt auch der Rat keine Antwort: Was da in den polnischen Luftraum flog, wie viel davon von wem abgeschossen wurde, was dabei kaputt ging.
Das ist der Teil der ganzen Geschichte, der auch die Bundesrepublik betrifft. Eingelullt in die amtliche Versicherung, wonach Deutschland (wie Polen ja auch) „keine Kriegspartei“ sei, hat sie darauf verzichtet, eine effektive Krisenkommunikation aufzubauen, mit der solche Propaganda-Tsunamis entschärft werden können, bevor sie ihre Wirkung entfalten. Dabei hätte man auch in Deutschland spätestens seit der Lachnummer mit den abgehörten Militärs, die im März 2024 über Taurus-Einsätze spekulierten, gewarnt sein müssen.
In Polen gibt es inzwischen wenigstens ansatzweise einen Krisenkommunikationskanal: Das Regierungszentrum für Sicherheit warnt per SMS vor Überschwemmung, Unwetter und Drohnen. Aber dieser Service eignet sich genauso wenig zur Propagandaabwehr im Internet wie die deutschen Alarm-Apps.
Wenn eine der russischen Drohnen, die über Polen herunterfiel, tatsächlich bis Deutschland weitergeflogen wäre, wie manche derer behaupten, die die russischen Propagandamatrizen weiterverbreiten, wären Bundesrepublik und Landesregierungen genauso überrascht worden wie die polnische Regierung. Und vermutlich hätten wir dann jetzt auch eine Debatte über Drohnenschutzschirme, Flugabwehr und Gebäudeschäden, die die Bevölkerung noch weiter verunsichert. Dabei können wir die wirklichen Schäden, die so etwas anrichtet, mit Internet-Analytik und Meinungsumfragen viel besser messen.
Der eigentliche Angriff vom 10. September auf Polen, der kam nicht aus der Luft, sondern still und leise über Smartphones und Laptops, er ging direkt in die Gehirne ihrer Besitzer. Er fand auch nicht statt, um von verirrten Drohnen abzulenken, im Gegenteil: Die Drohnen waren dazu da, die längst angelaufene Propagandakampagne glaubwürdiger zu machen.