Die Geschichte einer spektakulären Hausbesetzung und deren Folgen endet mit einem goldenen Stift und zwei Unterschriften. Die eine stammt von Dominique Krössin, Pankows Bezirksstadträtin für Soziales von der Linken. Die andere setzt Brigitte Klotsche an diesem Sonnabend unter einen Nutzungsvertrag. Er gilt für die Seniorenfreizeitstätte Stille Straße 10. Vom neuen Jahr an betreibt der gleichnamige Förderverein die Einrichtung. Der Vertrag ist unbefristet. Brigitte Klotsche gehört dem Vorstand des Vereins an. Und sie gehörte zu einer Gruppe von Senioren, die 2012 das Gebäude besetzten. Der Bezirk wollte es abreißen lassen, weil ihm das Geld für eine dringend benötigte Sanierung fehlte.

Mehr als Pillen-Verbraucher

Insgesamt 112 Tage lang campierten die Besetzer in dem Haus. „Sieben Leute waren über den gesamten Zeitraum da, Tag und Nacht“, erinnert sich Brigitte Klotsche. Dazu kamen im Wechsel weitere Besetzer. „Wir wollten zeigen, dass man so nicht mit älteren Menschen umgeht“, sagt die Aktivistin von damals. „Wir wollten beweisen, dass ältere Menschen mehr sind als nur Pillen-Verbraucher für die chemische Industrie.“ Am Ende gab der Bezirk nach. Die Volkssolidarität stieg als Träger der Freizeitstätte ein. Doch da der Sozialverband inzwischen sparen muss, endet die Kooperation.

Wieder ist die Einrichtung vom Aus bedroht, ihre Zukunft ungewiss gewesen. Wie so oft: Die bisherigen Nutzungsrechte für die Senioren waren stets befristet. Nun aber können sie langfristig planen. „Ich sehe den heutigen Tag mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, sagt Brigitte Klotsche. „Lachend, weil wir es endlich geschafft haben. Weinend, weil es so lange gedauert hat.“

Die 86-Jährige sitzt in einem großen Raum im Erdgeschoss, der einmal der Salon der früheren Villa gewesen sein könnte. Vor ihr sind Stuhlreihen aufgebaut. Hier wird der Förderverein Stille Straße 10 gleich seine Mitgliederversammlung abhalten und beschließen, dass er künftig als Träger für die Freizeitstätte verantwortlich ist. Auch die Unterschriften für den Verein und für Pankow erfolgen in dem Raum. „Der Bezirk wird den Verwaltungskram übernehmen“, wird Stadträtin Krössin später sagen.

Für das Finanzielle ist der Förderverein zuständig. Ein Teil des Geldes stammt aus den Beiträgen der mehr als 140 Mitglieder. Der Rest des Bedarfs wird über Spenden und Drittmittel gedeckt, das ist der Plan. „Wir haben lange hin und her gerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir das schaffen“, sagt Brigitte Klotsche. „Wir sind optimistisch.“ Denn schon jetzt ist die Spendenbereitschaft groß.

Wenn es gut läuft, werden sie irgendwann das Haus barrierefrei nachrüsten. Vorerst geht es um Unterhalt und Erhalt des Gebäudes, das 1928 von einem Pankower Piano-Fabrikanten errichtet und zwischenzeitlich von Stasi-Chef Erich Mielke und dessen Familie bewohnt wurde. Doch die Senioren haben ein wichtiges Etappenziel erreicht: Sie haben Planungssicherheit, für sich und nachfolgende Generationen, für Jung und Alt – alle eben, die die Stille Straße 10 künftig nutzen.

Für Brigitte Klotsche, die sechs anderen Besetzer und ihre Sympathisanten wirkt die Unterschrift unter den Nutzungsvertrag allerdings weit über die eigenen Belange hinaus. „Wir hoffen, dass wir mit unseren Aktivitäten und Aktionen anderen Mut machen“, sagt die Seniorin. So wie sie selbst mutig genug waren, damals 2012, als sie mit Schlafsäcken, Luftmatratzen, Feldbetten und Decken in die Stille Straße 10 einzogen, um erst dann wieder auszuziehen, wenn der Abriss kein Thema mehr sein würde.

„Wir wussten ja nicht, wie man das macht: ein Haus besetzen“, sagt Brigitte Klotsche. Und vor allem, wie sie es schaffen sollten, dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekam. Sie ließen sich zeigen, wie man wirksame PR macht und waren von ihrem Erfolg überrascht. „Medienleute gingen bei uns ein und aus“, sagt die Seniorin.

Nicht nur aus Berlin kamen die Reporter und auch nicht nur aus Deutschland. „Die größten Zeitungen der Welt waren da.“ Klotsche sagt: „Es war eine verrückte, aber eine tolle Zeit.“

Draußen vor dem Haus hängen an diesem Sonnabend Transparente zwischen Bäumen, auf denen ein Dank für die Unterstützung steht. Dafür, dass die Stille Straße 10 das bleibt, was sie ist: eine sozial ausgerichtete Institution in der Stadt. So ungefähr muss es schon ausgesehen haben, als die New York Times von vor Ort berichtete und ihre Leser über ein „besseres Berlin“ und eine „einzigartige Gemeinschaft“ informierte.

Brötchen und Kaviar

Die Besetzer wurden mit allem Nötigen versorgt und darüber hinaus. „Wir bekamen Lebensmittel, vom einfachen Brötchen bis zum Kaviar“, erzählt Brigitte Klotsche. „Es kamen Ärzte ins Haus, die uns medizinisch betreut haben.“ Sie waren nicht allein. Sie sind es auch diesmal wieder nicht.

Zur Unterschrift und der symbolischen Schlüsselübergabe durch Stadträtin Krössin schickten Linkspartei, CDU, SPD und Grüne Abgesandte in die Stille Straße 10. Es gab ein bisschen Medienrummel, auch wenn er nicht annähernd so ausufernd war wie während der Zeit der Hausbesetzung. An einige derjenigen, die 2012 mitmachten, muss Brigitte Klotsche an diesem Sonnabend denken. Die, die mitgekämpft haben um den Erhalt ihres Hauses, aber den Erfolg nicht miterleben dürfen. „Die, die nicht mehr unter uns sind.“ 13 Jahre sind eine lange Zeit.