Am 10. Januar kam der große Knall. Wochenlang hatte das Medienhaus Correctiv an einer Recherche gefeilt: Rechtsextreme, solvente Unternehmer und Politiker aus AfD, CDU und Werteunion sollen im November vergangenen Jahres in Potsdam einen „Masterplan Remigration“ zur „Vertreibung“ von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund besprochen haben. Und zwar aufgrund „rassistischer Kriterien“. Der Bericht hatte seine Wirkung nicht verfehlt: Führende Politiker der Bundesregierung griffen den Bericht auf. Einen Tag nach Erscheinen der Recherche warnte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor „Fanatikern mit Assimilationsfantasien“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (ebenfalls SPD) warf den Teilnehmern des Potsdam-Treffens sogar vor, „bewusst NS-Ideologien“ zu verfolgen. Am Wochenende nach Erscheinen der Correctiv-Recherche gingen deutschlandweit über eine Million Menschen auf die Straße.

Jetzt steht die Recherche vor Gericht. Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg soll über zwei Anträge auf einstweilige Verfügung entscheiden. Die Kläger sind der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau, der am Treffen in Potsdam teilnahm. Und ein Unternehmer, der im Correctiv-Text als Spender des Potsdamer Treffens namentlich genannt wird, aber seinen Namen nicht in der Presse lesen will.

Eidesstattliche Versicherungen

Der Jurist Vosgerau wirft Correctiv vor, es rücke die Kritik an der Briefwahl, die er in Potsdam vorgetragen habe, in ein rassistisches Licht. Die Journalisten hätten ihn außerdem nicht mit dem Vorwurf konfrontiert, in Potsdam sei über die erzwungene Ausweisung deutscher Staatsbürger nach rassistischen Kriterien wie Hautfarbe oder Herkunft beraten worden – eine Interpretation des Treffens in Potsdam, der er energisch widerspricht. Vosgerau hat dem Gericht zudem mehrere eidesstattliche Versicherungen von Teilnehmern des Treffens vorgelegt, in denen sie die Kernvorwürfe des Correctiv-Berichts bestreiten. Sie sind seinem Verfügungsantrag beigefügt und dienen als Glaubhaftmachungsmittel. Als Reaktion haben die Journalisten von Correctiv gegenüber dem Gericht mehrere eidesstattliche Versicherungen abgegeben, in denen sie an der Richtigkeit der Angaben ihrer Quellen festhalten. Jetzt will das Medienhaus Correctiv, dessen Führungskräfte teils auch als Redner auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gesprochen hatten, vieles nicht mehr so gemeint haben. So ist laut einem Bericht der Welt im Schriftsatz des Correctiv-Anwalts Thorsten Feldmann zu lesen, das Medienhaus habe nie geschrieben, in Potsdam sei davon gesprochen worden, „unmittelbar und sofort ‚deutsche Staatsbürger mit deutschem Pass auszuweisen‘“.

Vielmehr treffe die Angabe in den eidesstattlichen Versicherungen der Teilnehmer zu, dass sie „nicht über eine rechts-, insbesondere grundgesetzwidrige Verbringung oder Deportation deutscher Staatsbürger gesprochen haben“. Feldmann spricht stattdessen von einer geplanten Gesetzesreform in Sachen doppelte Staatsbürgerschaft, die die Teilnehmer des Potsdam-Treffens besprochen hätten. So soll demnach der deutsche Pass bei doppelten Staatsbürgerschaften leichter entzogen werden können.

Sollte das stimmen, wäre diese Idee der Teilnehmer des Potsdam-Treffens schon politisch fragwürdig genug. Aber kann dann noch von Plänen zur massenhaften Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund rassistischer Kriterien gesprochen werden – „egal, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht“? Die Reaktionen vonseiten der Bundesregierung waren indes eindeutig. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach noch am 19. Januar in einer Videobotschaft von „abstoßenden Umsiedlungsplänen“, die Extremisten auf einer „Geheimkonferenz“ besprochen hätten. Sie wollten „unseren Zusammenhalt“ zerstören, so der Bundeskanzler.

Mehr als zwanzig Millionen Bürger mit Migrationsgeschichte in Deutschland fühlten sich von diesem „teuflischen Plan direkt betroffen“, so Scholz weiter– nur um danach für eine Erleichterung des Staatsbürgerschaftsrechts zu werben. Die Demonstrationen fände er „richtig und gut“, und er ergänzte: „Wenn etwas in Deutschland nie wieder Platz haben darf, dann ist es die völkische Rassenideologie der Nationalsozialisten.“

Die Berliner Zeitung wollte wissen: Handelte es sich bei diesen Aussagen des Bundeskanzlers zur „Geheimkonferenz“ in Potsdam um Tatsachenbehauptungen oder um Wertungen? Und hält er an seiner bisherigen Einschätzung fest? „Die Worte des Kanzlers stehen für sich“, teilt ein Regierungssprecher auf Anfrage mit. Im Übrigen teile man nicht die Annahmen, die den Fragen der Berliner Zeitung zugrunde lägen.

Und Faeser? Sie kündigte unter Erwähnung der vom Correctiv-Bericht ausgelösten Demonstrationen ein neues Maßnahmenpaket gegen Rechtsextremismus an. Die Kundgebungen seien ihr dafür „Ermutigung und Auftrag zugleich“, so die Bundesinnenministerin während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang (CDU) und dem BKA-Präsidenten Holger Münch. Die Kompetenzen des Verfassungsschutzes sollen Faeser zufolge maßgeblich erweitert werden: So soll etwa kein Verhetzungs- oder Gewaltbezug mehr vorliegen müssen, um die Finanzströme rechtsextremer Organisationen auszutrocknen. Allein das Potenzial einer Gefährdung würde ausreichen. Mitglieder von Organisationen, die vom Verfassungsschutz lediglich als „Verdachtsfälle“ eingestuft werden, könnte der Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnis drohen – ein rechtliches Novum.

Sie warb zudem im Einklang mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) für eine schnellere Verabschiedung des Demokratiefördergesetzes, das die zukünftige Finanzierung für Projekte wie „Demokratie leben!“ sowie für zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen sicherstellen soll. Kritiker werfen Faeser und Paus vor, sie finanzierten damit jene Vorfeldorganisationen, die ihre Parteien für den nächsten Wahlkampf bräuchten – ein Wahlkampf, in dem sie sich auch gegen eine erstarkende AfD behaupten müssten. Die Berliner Zeitung fragte beim Bundesinnenministerium an: Könnte ein für Correctiv nachteiliges Gerichtsurteil zu einer Revision von Faesers Plänen führen? Ein Sprecher teilt mit, sie betone bereits seit Amtsantritt, „dass der Rechtsextremismus die größte Gefahr für unsere Demokratie darstellt“. Bei der Vorstellung des Maßnahmenpakets habe sie deutlich gemacht, „dass sich eine offene Gesellschaft gegen diese Gefahr verteidigen, die wehrhafte Demokratie sich Extremisten entgegenstellen müsse“. Nur in diesem Zusammenhang seien für Faeser die „Proteste Hunderttausender in den letzten Wochen Ermutigung und Auftrag zugleich“, so das Ministerium.

Diese Aussagen Faesers würden „unabhängig von einzelnen Medienberichten“ gelten, so der Sprecher weiter. Zumal die „Bedrohung durch den Rechtsextremismus und durch rechtsextremistische Netzwerke“ im Übrigen „hinlänglich durch Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden belegt“ sei. Hätte sich die Ministerin den Verweis auf die Demonstrationen dann nicht einfach sparen können?

Bald wird das Landgericht Hamburg über die Verfügungsanträge der Kläger entscheiden, die gegen Correctiv vor Gericht ziehen. Dabei wird es auch die eidesstattlichen Versicherungen einbeziehen müssen, die beide Parteien abgegeben haben. Welche Version der Ereignisse stimmt, wird sich indes ohne weiteres nicht überprüfen lassen: Die eidesstattlichen Versicherungen taugen nicht als Beweismittel.

Einschätzung mit Folgen

Dass das Gericht sämtliche Thesen von Correctiv als falsche Tatsachenbehauptungen einstufen könnte, gilt als unwahrscheinlich. Es ist eher mit einem anderen Szenario zu rechnen: Was die Öffentlichkeit als Kernthese des Correctiv-Berichts wahrgenommen hatte – dass Rechte auf dem Treffen in Potsdam Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund rassistischer Kriterien vertreiben wollten, darunter auch deutsche Staatsbürger – könnte das Gericht als bloße Wertung der Autoren einstufen.

Und das hätte Folgen. Weniger für den Text des Artikels: Der dürfte weiter weitgehend unverändert online bleiben. Überzeugte Correctiv-Leser dürften sich an dem Urteil wohl auch nicht stören. Der Skepsis gegenüber der Presse und der Politik in der Breite der Bevölkerung könnte ein solches Urteil jedoch weiter Vorschub leisten. Die politische Spaltung im Land dürfte der Correctiv-Bericht bereits jetzt verschärft haben. In den kommenden Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob das Medienhaus mit seiner Recherche zu hoch gepokert hat – und ob es möglicherweise politische Mechanismen in Gang setzte, die sich nicht mehr einfangen lassen.