Zehn Uhr, Sonntagmorgen. Ich stehe vor dem Haus, atme tief ein und werde mir der Stille bewusst, die gerade über Berlin liegt. Glassplitter auf dem Gehweg, Reste einer langen Nacht. Vor dem Nachbarhaus hält ein Taxi, drei Nachtschwärmer steigen aus, ausgelassen hüpfen sie zur Haustür. Unter den langen Mänteln blitzt eine Spitzenkorsage mit einem Choker am zarten Hals, dazu pinke Mädchenzöpfe, einer trägt Kajal und metallic-grün lackierte Nägel, schwere Stiefel und einen Flogger über der Schulter, eine Art Peitsche.

Ich schmunzle über die Szene, auf ganz ähnliche Weise habe ich sie oft selbst erlebt. In Berlin, dieser sexpositivsten aller europäischen Städte – wenn nicht der ganzen Welt – erklingt ein offenes Ja zur freien Sexualität und ein Willkommen gegenüber dem Anderssein. Ich vergleiche Berlin mit einem Mutterschoß, in dem Vielfalt wächst – mal ruppig und direkt, mal sanft, mal zugedröhnt, dann wieder glasklar.

Als ich im Jahr 2000 für die Promotion nach Berlin zog, wusste ich nicht, auf was für eine freizügige Stadt ich mich da eingelassen hatte. Erst nachdem meine beiden Kinder geboren waren und ich mich als Single auf der Suche nach männlichem Anschluss im Großstadtdschungel wiederfand, begann das, was ich als sexuelles Erwachen bezeichnen würde.

Ich startete mit einer Anzeige auf einem Dating-Portal. Hier begegnete ich einem echten Sexperten, einem König erotischer Techniken und intimer Einfühlung, bestens vertraut mit Tools aus Berliner Sexshops, die er in seiner Sammlung aufbewahrte. Ich ließ mich von ihm in sein Kreuzberger Loft einladen. Hier wurde mir klar, wie schambesetzt ich war. Weder auf die Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit durch eine Fessel und ein Halsband noch auf seine Führung wollte ich mich einlassen. Aus Angst vor Hingabe und tiefen Gefühlen brachte ich fadenscheinige Argumente vor. Erst nach einiger Zeit lernte ich, dass mich die Angst vor Kontrollverlust daran hinderte, mit mir selbst verbunden zu sein. Als die Scham fiel, gelang mir ein tiefes Eintauchen in meinen weiblichen Körper. Beeindruckt schrieb ich alles auf und setzte diesen Erfahrungen ein Denkmal in Form eines erotischen Romans.

Nachdem die Beziehung zu Ende und ein erster Schritt hin zur Öffnung meines sexuellen Erlebens getan war, zog es mich in den KitKatClub, Samstagnacht „CarneBall Bizarre“. An der Garderobe legte ich meine Alltagskleidung ab, um durch ein schwarzes kinky Outfit ein ganz anderes Ich zum Leben zu erwecken. Wie das genau aussehen mochte, war mir zunächst noch gar nicht klar.Der Club sog mich förmlich auf. Laute Techno-Beats, Lichtermeer, Fantasie-Kostüme mit Tüll und Glitzer, Abendkleider, Latexanzüge, die die geschlossene und glatt-glänzende Oberfläche feiern, Hundemaskenträger an der Leine auf allen Vieren, lange Beine in High-Heels; der Po, durch Strapse markiert, streckt sich den Peitschenhieben entgegen; saugende Mundbewegungen auf der Tanzfläche, viel nackte Haut und lüsterne Blicke. Mein Nervensystem war überfordert. Ich begegnete anderen Gästen, die ihre Sexualität offen zeigten und anboten. Wie sollte ich mich dazu verhalten? Durfte ich nein sagen? Was suchte ich wirklich? Die Bilder der ersten Nächte blieben mir Tage im Gedächtnis, sie wühlten mich auf.

Erst nach einigen Besuchen stieg meine Souveränität, ich setzte schneller Grenzen und legte Wünsche offen. Parallel ging ich zu Tantra-Seminaren in Berlin und anderswo und fühlte mich in die Langsamkeit und Achtsamkeit von körperlicher Begegnung und Berührung ein. Lernte, dass Sexualität ein Gebet sein kann, wenn sie als Kraft und nicht nur als schuldbeladene Geilheit betrachtet wird, die nicht anders kann, als sich nach Schema F auszuagieren.

Nicht nur im Berliner KitKatClub, sondern auch in anderen sexpositiven Orten wie dem IKSK, dem Insomnia, dem Berghain merkte ich irgendwann, dass es für mich nicht um den schnellen Sex ging – der zwar seine Berechtigung hat und zum richtigen Zeitpunkt auch als Geschenk betrachtet werden darf –, sondern um etwas viel Weitreichenderes: um Kommunikation und eine seelische Dimension. Mit anderen in Verbindung zu stehen, nenne es die des Herzens, der Liebe oder der Energie, oder nur solange, wie es dauert, eine Zigarette miteinander zu teilen, ist wie ein Netz, das mich trägt und mir Höhenflüge schenkt, wenn ich es erlaube. Hier darf ich abheben und meine Flügel schwingen. Verrückt sein und mich ausprobieren, solange ich will und andere es mir ermöglichen.

Ich sah mir selber zu, wie ich göttinnengleich Wellen der ekstatischen Zustände und Erkenntnisse durchflog, durch die luftigen Höhen schwebte wie ein Vogel. Sich zu zeigen, so wie man ist, und die anderen zu sehen, so wie sie sind, pur, auch in ihrer kinky Art, befreit von jeglicher Beurteilung, ist nichts Abnormales, sondern Ergebnis eines neuen Bewusstseinszustands. Durch Erkenntnis und mutiges Ausprobieren geschah das mit mir, doch es wäre nichts ohne die Bühne der anderen, nichts ohne den Raum des Sehens und Gesehenwerdens, die Interaktionen und die Community der Clubgänger.

Was hier im Schoß von Berlin wächst und gedeiht, ist schlichtweg einmalig. Und wenn ich ein Sinnbild für die Berliner Metropole entwerfen sollte, sehe ich eine üppige, sinnliche Frau. Sie steht fest verbunden mit der Erde, trägt Strümpfe bis zur Mitte ihrer Oberschenkel. Menschen stehen vor ihrer Vulva, fröstelnd und aufgeregt wie vor einem Tor Schlange, um Einlass in ihre dunkle Tiefe zu erhalten. Werden sie hineingelassen, verwandeln sie sich zu schillernden Wesen in allen Formen und Farben. Wenn sie reif sind, erfasst sie ein tiefer Atemzug, der sie zum Kopf hochzieht, aus dem sie frei und selbstbewusst hinausfliegen. Denn die meisten entwickeln auf ihre jeweils originäre Art und Weise ein klares Bewusstsein darüber, was Sexpositivität heißt: Verbindung, Kommunikation, Chancen und Grenzen, Sex als Motor und nicht als Ergebnis, Frieden. Dies ist im Bourdieu’schen Sinne das besondere Kapital dieser Stadt.