Oliver Alexander ist ein dänischer Amateur-Osint-Ermittler. Osint steht für „Open Source Intelligence“ und nutzt öffentlich verfügbare Daten, um Ereignisse überall auf der Welt zu untersuchen. Alexander hatte bereits die Explosionen auf der Brücke zur Krim im Oktober 2022 und die ukrainische Rakete, die im November in Polen landete, untersucht. Er hat jüngst die Explosionen analysiert, die am 26. September 2022 drei der vier Nord-Stream-Pipelines zerstörten. Er hat dabei Online-Daten wie AIS-Schifffahrtsidentifikationsdaten und Satellitenbilder verwendet. Er gilt als Kritiker von Seymour Hersh, der sich auf anonyme Daten bezieht, die davon ausgehen, dass die amerikanische Regierung hinter den Nord-Stream-Anschlägen steckt.

Die Berliner Zeitung hat auch Seymour Hersh interviewt. Welche der beiden Theorien stimmen, ob die von Hersh, die von Alexander oder vielleicht eine ganz andere, kann bislang niemand eindeutig sagen. Am 26. September 2022 wurden mit mehreren Sprengungen Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines verübt. Dabei wurden beide Stränge von Nord Stream 1 und einer der beiden Stränge von Nord Stream 2 unterbrochen.

Herr Alexander, was sagen Sie zu den Berichten in der New York Times und der Zeit, dass eine proukrainische Gruppe die Pipelines gesprengt hat, möglicherweise mit einem in Polen gemieteten Segelboot?

Der Artikel in der New York Times war nicht sehr aufschlussreich. Es gab eine anonyme Quelle, was mir zeigt, dass die Informationen nicht besonders verlässlich sind. Auf mich wirkte das alles nicht sehr konkret. Ich vermute, dass die New-York-Times-Veröffentlichung die Wochenzeitung Die Zeit dazu veranlasst hat, ihren Beitrag direkt danach zu veröffentlichen, mit etwas mehr Details, obwohl auch dieser eine Menge Fehler enthielt. Der größte Fehler war der falsche Hafen, den sie erwähnten, nämlich Wieck auf dem Darß. Dieser Hafen ist nicht tief genug für das Boot, das angeblich gemietet wurde. Die Ostsee-Zeitung befragte den Hafenmeister und er sagte, niemand habe sich bei ihm gemeldet. Wahrscheinlich sei die Tätergruppe von diesem anderen Ort, Wiek auf Rügen, losgefahren. Interessanterweise war das kein Tippfehler. Die Quelle hatte der Zeit gesagt, der Abfahrort sei der Hafen auf dem Darß gewesen. Sie sehen also, die ganze Geschichte ist etwas seltsam: Die Gruppe arbeitet sehr professionell, wurde aber offenbar von einem Unternehmen bezahlt, das sehr leicht mit der Ukraine in Verbindung gebracht werden kann. Das ist komisch, wenn man sich die Mühe macht, mit gefälschten Pässen superprofessionell zu sein und von Deutschland aus zu reisen. Hinzu kommt, dass sie das Boot nicht gereinigt haben, als sie zurückkamen. Auch sehr merkwürdig.



Anders gesagt: Hunderte Kilogramm Sprengstoff auf einem Segelboot zu transportieren und dann an drei Stellen komplizierte Tauchgänge in 70 oder 80 Meter Tiefe durchzuführen, erscheint Ihnen nicht besonders plausibel?

Wir wissen nicht genau, wie viel Sprengstoff verwendet wurde. Eine Frage war immer, wie viel von der Sprengkraft auf den im Pipeline-Rohr aufgebauten Explosionsdruck und wie viel auf die eigentliche Bombe zurückzuführen ist. Wenn es sich um eine große Menge an Sprengstoff handelte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Täter den Sprengstoff auf diesem angeblichen Segelboot mitführten. In dieser Tiefe sind die Verantwortlichen wahrscheinlich mit Heliox getaucht (ein Atemgas für Taucher, Anm. d. Red.). Je nach Anzahl der Tauchgänge hätten sie 20, 30, 40 Flaschen davon gebraucht, eine gewaltige Menge, die auf einem Boot nicht so leicht nachgefüllt werden kann. Sie hätten viel Ausrüstung benötigt. Sie hätten einen internationalen Bootsführerschein gebraucht, um das Boot mieten zu können, also hätte der auch gefälscht gewesen sein müssen. Sie hätten Leute gebraucht, die wissen, wie man ein Segelboot segelt. Und noch etwas: Angenommen, das Meer war 80 Meter tief. Sie konnten wahrscheinlich nicht ankern, also mussten sie das Boot ruhig halten, während sie mit zwei Tauchern einen Tauchgang machten. Dann wäre eine Dekompression nötig gewesen, und sie hatten keine Dekompressionskammer.



Dekompressionskammern dienen zur Anpassung an den atmosphärischen Luftdruck, um Dekompressionserkrankungen bei Tauchern vorzubeugen.

Sie hätten also im Wasser die Dekompression machen müssen. Wie lange das dauert, hängt davon ab, wie lange die Täter angeblich gebraucht hatten, um den Sprengstoff zu platzieren. Eine Stunde, vielleicht zwei Stunden? Das ist jedenfalls eine lange Zeit, um unter Wasser zu sein. Bei mehreren Tauchgängen müssten sie tagelang warten, bis sie wieder tauchen können. Die Stelle, an dem sie den Sprengstoff anbrachten, ist eines der tieferen Gebiete in der Ostsee bei Bornholm. Das bedeutet, dass die Täter gezielt eine der Stellen gewählt haben, an denen es am schwierigsten ist, zu tauchen, was dumm ist, wenn man ein kleines Boot ohne AIS-Ortung hat. Theoretisch könnte man die Operation auch an anderen, leichter zugänglichen Stellen durchführen. Warum suchen sich die Täter ausgerechnet die schwierigste Stelle im Meer für die Operation aus?



Und eine der Explosionsstellen ist 80 Kilometer von den beiden anderen entfernt. Man bräuchte also mehrere Tage, um dort hinzukommen und die Operation durchzuführen.

Und genau zu dieser Zeit war auch der Tanker „Minerva Julie“ dort, ein Schiff mit Verbindungen nach Russland, da es Öl für Russland transportiert und der Bruder des Eigners etwas mit dem orthodoxen Kloster in Griechenland zu tun hat, das Putin manchmal besucht. Das Schiff befand sich auf dem Weg von Rotterdam nach Sankt Petersburg. Vom 5. bis 13. September 2022 hielt es sich nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt auf, an der sich die Explosionen ereigneten – und kreiste dort acht Tage lang ohne ersichtlichen Grund herum. Das Segelboot, das angeblich benutzt wurde, verließ Rostock am 6. September und wurde vom 16. bis 18. September auf der Insel Christiansø gesichtet, sodass Tanker und Segelboot genau zur gleichen Zeit dort auf dem Meer gewesen sein müssen. Wenn die beiden Boote bzw. Schiffe also nicht beide zugleich mit der Sprengung beschäftigt waren, könnten sich die Besatzungen zumindest zugewunken haben.



Vielleicht wurden die Täter vom Segelboot auf den Tanker gebracht?

Ich habe die Theorie, dass die „Minerva Julie“ als stabilere Plattform fürs Tauchen benutzt wurde. Es könnte einfacher gewesen sein, den Sprengstoff oder das Team von einem Hafen in Deutschland auf das Schiff zu schmuggeln als vom Hafen in Rotterdam, wo es vermutlich viele Überwachungskameras gibt, sodass es Überwachungsmaterial von diesen Leuten, also den Tätern, gegeben hätte, wenn sie von Rotterdam aus aufgebrochen wären. Die Tatsache, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Täter in Rotterdam an Bord des Tankers gegangen sind, könnte beispielsweise als Beweis dafür dienen, dass der Tanker nicht beteiligt war. Dass die Strippenzieher hinter den Explosionen die Taucher mit dem kleinen Segelboot verschifft haben, um sich mit der „Minerva Julie“ zu treffen, ist ein plausibleres Szenario als jenes, das davon ausgeht, dass die Sprengung allein von dem Segelboot aus durchgeführt wurde.



Sie glauben also, dass es sich um eine russische Operation handelt?

Alles deutet definitiv eher darauf hin. Wie die New York Times sagte, könnten es theoretisch auch Anti-Putin-Russen sein, selbst wenn es Russen waren. Es gibt noch keine Möglichkeit, das herauszufinden.



Allerdings gibt es eine Verbindung zwischen der „Minerva Julie“ und Personen, die mit Putin zu tun haben.

Es gibt eine Verbindung zu Putin, aber ich weiß nicht, zu wie vielen anderen mächtigen Oligarchen es durch dieses orthodoxe Kloster noch eine Verbindung gibt. Es muss nicht unbedingt Putin sein. Es ist eine sehr heilige Stätte für die russische Orthodoxie, daher vermute ich, dass viele andere mächtige Russen ebenso dorthin fahren.



Sie sind sehr skeptisch gegenüber Seymour Hershs Recherche zu Nord Stream. Was sind Ihre Haupteinwände gegen seine Theorien?

Wie viele Stunden Zeit haben Sie? Zunächst einmal besteht seine Geschichte den „Schnuppertest“ nicht wirklich. Das fängt schon damit an, dass er sagt, die Täter hätten ein norwegisches P-8-Poseidon-Flugzeug benutzt, um eine Sonarboje zur Zündung des Sprengstoffs abzuwerfen, was lächerlich ist. Außerdem: Die P-8-Poseidons werden von der norwegischen Luftwaffe eingesetzt und nicht der Marine, also ist das eine weitere Sache, die im Text falsch ist. Hersh sagt, es sei ein Routineflug gewesen, aber wenn Sie jemals auf eine Karte geschaut haben und wissen, wo Norwegen liegt und wo die norwegische Basis ist, dann werden Sie erfahren, dass sie in Nordnorwegen liegt, weil die Norweger dort oben in der Nordsee patrouillieren. Das ist ihre Aufgabe. Die Norweger würden niemals einen Routineflug über die Ostsee machen. Sie fliegen nicht routinemäßig im schwedischen und dänischen Luftraum. Außerdem waren die P-8-Flugzeuge zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal im regulären Dienst. Sie wurden nur für ein paar Trainingsflüge eingesetzt, weil sie noch nicht im aktiven Dienst waren. Hersh sagt, sie hätten einfach die Transponder ausgeschaltet, aber dann wäre dieses Flugzeug, von dem er spricht, den ganzen Weg von Nordnorwegen bis hinunter nach Bornholm geflogen, im Grunde durch ganz Schweden, ohne dass Schweden davon wusste, und dann in den dänischen Luftraum, ohne dass Dänemark davon wusste, und dann wieder zurück. Die Maschinen hätten wahrscheinlich irgendwo auf dem Weg tanken müssen. Hersh sagt, die Täter hätten die Sprengsätze mithilfe von Akustik gezündet. Akustik wird in der Ölindustrie häufig eingesetzt, um Lecks zu stopfen. Das kann man also machen. Aber normalerweise benutzt man statt dieser Methode ein kleines Gerät, das man an einem Seil ins Wasser lassen kann und das so groß ist wie ein Laptop. Eine Kabelspule ist alles, was man braucht, um Sprengstoff bis zu einer Tiefe von 5000 Metern zu aktivieren. Ich sehe also nicht ein, warum man diese ganze aufwendige Operation organisieren sollte, bei der man dieses Flugzeug heimlich fliegt, wenn man einfach einen Typen in einem kleinen Schnellboot haben kann, der dieses kleine Ding einfach ins Wasser wirft. In späteren Interviews behauptete Hersh, dass es amerikanische Piloten waren, die das Flugzeug flogen, was die Sache noch absurder macht.



Und dann sind da noch die Schiffe, die laut Hersh benutzt wurden, um die Bomben zu legen.

Er sagt immer wieder, dass es ein Minenräumer der „Alta“-Klasse war. In Interviews hat er aber auch „The Alta“ gesagt. Aber „The Alta“ ist verschrottet worden. Sie ist seit 2012 nicht mehr in Betrieb. Es gibt viele visuelle Beweise dafür, dass es verschrottet wurde. Alle anderen Schiffe der Alta-Klasse mit Ausnahme der „Hinnøy“ waren nicht in Dänemark. Es ist ziemlich schwierig, ein Schiff in die Ostsee zu schmuggeln, weil man sich unter einer der massiven dänischen und schwedischen Brücken hindurchschleichen muss. Irgendjemand hätte davon erfahren. Das Schiff, das für eine Marineübung dort war (im Sommer 2022, während Hersh behauptet, dass der Sprengstoff dann platziert wurde), hatte sein AIS eingeschaltet und wurde die ganze Zeit beobachtet, und es fuhr mit Schiffen aus Finnland, Schweden, den Niederlanden, Polen und Estland, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hätten sich heimlich davonmachen müssen, um diese Mission durchzuführen. Sie wären auch alle daran beteiligt gewesen. Plötzlich sind also mehrere Nationen an diesem Geheimplan beteiligt, von dem nicht einmal der amerikanische Kongress wissen konnte.

Das Gespräch führte Maurice Frank.