Samstag, 16. September 2023, Berliner Zeitung
Hello, Spaceboy
Die Ausstellung „Universal Metabolism“ im Kraftwerk Mitte wird in die Geschichte eingehen. Selten hat eine Schau so eindrücklich erfahrbar gemacht, wie sich Systeme verändern
Zwischen den zwei Festivalwochenenden des Atonal-Festivals für Klangkunst im Berliner Kraftwerk Mitte fand zum zweiten Mal eine mit vier Tagen Laufzeit verschwenderisch kurze und zugleich verschwenderisch reiche Ausstellung auf allen Etagen des ehemaligen Heizkraftwerks und seinen 8000 Quadratmetern Veranstaltungsfläche statt, die am Donnerstag endete.
Ihren Besuchern leuchtete aus dem Dunkel der Halle als Auftakt eine freistehende Installation von sechs Wandteppichen der Künstlerin Livia Melzi entgegen, ein Blick in die Hölle, wie sie europäische Illustratoren im 16. Jahrhundert entwarfen, als sie die Berichte der Seereisenden und Missionare aus der Neuen Welt und deren Begegnung mit indigenen Kulturen in erschreckende Bilder setzten, die Menschen zeigen, die andere Menschen martern und essen. Diese schwarz-weißen, in Stoff gewebten historischen Stiche sagen heute mehr über unseren eigenen Blick als über diese Kulturen aus, und sie führen direkt in das Thema der Ausstellung „Universal Metabolism“, den Stoffwechsel unserer Spezies, der Teil eines viel größeren Gaia-Organismus ist, der auch uns verdaut.
Gleich hinter den Teppichen liegt eine Fläche im Dämmerlicht der fensterlosen Halle, die von Trümmersteinen bedeckt ist. Einen Augenblick später wird sie in ein mildes Arbeitslicht getaucht, und man sieht inmitten der Steine die Künstlerin Bridget Polk, die vor den Augen der Besucher aus diesen Trümmern säulenartige Skulpturen baut. Ihre einzelnen Bestandteile werden nur durch die Schwerkraft zusammengehalten. Man kennt dies von den kleinen Kieselpyramiden am Strand oder Gebirge, doch Polks Material stammt aus den Ruinen menschlicher Bauten. Sie stellt Mauersteine, Geländersäulen und Betonquader auf Kante und stapelt sie in die Höhe. So entsteht ein magischer Stillstand der Objekte. Bridget Polk bei diesen Balance-Akten zuzuschauen, ist ein Blick in die Werkstatt der Künstlerin und zugleich eine performative Meditation.
Etwas tiefer im Saal tropft der Kalkschlamm auf der Oberfläche einer fünf Meter hohen Textilskulptur von Mire Lee in eine Bodenwanne. Die Skulptur „Black Sun“ der koreanischen Künstlerin hat die fetzenhafte Struktur eines freigelegten Fasziengeflechts und erinnert an ein ausgeweidetes Tier. Lees organisch und zugleich technisch wirkende Installation könnte Teil ihrer derzeitigen Ausstellung im New Museum in New York sein. Es ist ein großes Glück, sie auch in Berlin zu entdecken. Adriano Roselli, der Kurator dieser Ausstellung im Kraftwerk Mitte, hat viele solcher Entdeckungen in dieser Ausstellung versammelt, von Florentina Holzigers Glockenspiel-„Etüde“ am ersten Wochenende der Show bis zu neueren Arbeiten von Cyprien Gaillard, Marco Fusinato, Actres oder Romeo Castellucci.
Das Atonal-Festival ist wahrscheinlich das einzige Musikfestival der Welt, das ganzjährig einen Kurator für Bildende Kunst beschäftigt. Das mag an seiner Gründungsgeschichte liegen, die zurückführt in die frühen 80er-Jahre West-Berlins, als Dimitri Hegemann das Festival als eine Plattform für Klangkunst und visuelle Kunst gründete und 2013 unter der neuen Leitung von Laurenz von Oswald am Kraftwerk Mitte wiederauferstehen ließ. Seither ist der bildende Künstler Adriano Roselli aus Sydney Teil des Teams und gestaltete nicht nur im Rahmen des Festivals dort sehr ungewöhnliche Ausstellungskonzepte. Sie werden von Künstlern geliebt, aber von der Kunstwelt nur selten wahrgenommen, weil sie sich abseits der vertrauten Pfade ereignen. Doch zum Glück für die Kunstwelt findet nun das Atonal-Festival parallel zur Berliner Art Week statt.
Die in dem riesigen Gebäude des Kraftwerks Mitte zu erlebende Ausstellung verhält sich im Grunde wie eine Aufführung. Sie spielt mit dem Vergehen der Zeit und stellt in ihrer Laufzeit ständig neue Konstellationen zwischen den in ihr gezeigten Werken von fast dreißig Künstlerinnen und Künstlern her. „Universal Metabolism“ ist einerseits eine Ausstellung, aber auch ein Festival in sich, das viele Kunstformen übergangslos zueinanderbringt. Darin ähnelt Adriano Rosellis Ausstellung denen von Künstlern wie Philippe Parreno, Pierre Huyge, Tino Sehgal oder Anne Imhof, für die nicht das einzelnen Objekt, sondern die Ausstellung selbst das Werk ist. Viele Künstler arbeiten heute kuratierend und erschaffen „Ausstellungsorganismen“, die sich mit der Zeit und dem Augenblick ihrer Wahrnehmung verändern. Und das prägt auch die Arbeit einer neuen Generation von Kuratoren und Kuratorinnen. Adriano Roselli, Raimundas Malašauskas oder Pablo Wendel und Helen Turner unweit im E-Werk Luckenwalde bauen poetische Erlebnis-Maschinen, die Werke, Orte und die Anwesenheit des Publikums auf neue Weise in eine ästhetische Resonanz bringen.
Angelockt von Geräuschen oder Lichtwechseln bewegen sich die Besucher in „Universal Metabolism“ immer wieder an neue Orte, bilden ein temporäres Publikum um Werke, die für Momente sichtbar werden und dann wieder im Dunkeln verschwinden. Unter den frei im Raum hängenden Orgel-Säulen von Valerie Export erscheinen in einem bestimmten Moment die Performer Tot Onyx und Yuko Kaseki, die mit Metallrohren ihre Gliedmaßen verlängern oder sie mit einem Violinenbogen zum Klingen bringen. Immer wieder entstehen inmitten der permanenten Installation von Skulpturen, Grafiken und Filmen neue Bühnen ohne Sitze, mischen sich die Künstler unter das Publikum und heben die Grenze zwischen Werk und Besucher auf.
Dass Leben auf dem Vorgang des „Stoffwechsels“ beruht, auf der Verwandlung von Substanzen in Energie, ist in dieser Ausstellung, die den Titel „Universal Metabolism“ trägt, zugleich das Betriebssystem des Ausstellens selbst. Die Ausstellung wird hier nicht als zur Ruhe gebrachtes Produkt betrachtet, sondern als lebendiger Prozess verstanden und erlebbar gemacht. Unsere gesamte Kultur, so bemerkte der Schriftsteller W.G. Sebald angesichts der von zahllosen Lichtern erleuchteten Lagunenlandschaft Venedigs, beruht auf Verbrennung. Jede Öllampe auf einem Fischerboot, jeder Computer und auch die bei Nacht von Laternen erleuchteten Autobahnen Belgiens, die aus dem Weltall sichtbar sind, beruhen auf der Verbrennung fossiler Energie. Eine Ausstellungsserie an einem Ort wie dem ehemaligen Heizkraftwerk Mitte, das Energie aus fossilen Pflanzen erzeugte, ist eine großartige Verbindung dieses konkreten Ortes mit der Einbezogenheit unserer Spezies in den Stoffwechsel eines viel größeren Lebens auf diesem Planeten.
Adriano Rosellis Ausstellung „Universal Metabolism“ erhebt keinen klimapolitischen Zeigefinger, sondern taucht tief ein in die Stoffwechselverhältnisse unserer Spezies mit diesem Planeten, innerhalb unserer Gesellschaft und unseres eigenen Körpers. Wer poetisch berührbar ist, kann diese in jeder einzelnen der gezeigten Arbeiten spüren, aber vor allem in der Begegnung mit diesem „Ausstellungskörper“ selbst.
„Universal Metabolism“ macht als ein choreografierter Parcours von Begegnungen mit Kunstwerken so viele Angebote, sich auf das unerwartete Erscheinen von Kunstwerken, ihrer lebendigen Präsenz als Performance, Installation und damit verbundener Publikumsbewegung einzulassen, dem Strom der Gäste in Richtung der Klänge und Lichter zu folgen, dass die scheinbare Unerschöpflichkeit des Gleichzeitigen, das in diesem Raum zu erleben ist, tatsächlich eine sehr individuelle Begegnung mit exzellenten Kunstwerken hinterlässt.
Das überstrapazierte und zugleich symptomatische Wort des Kunstbetriebs, der gerne von der „Aktivierung“ von Objekten und sozialen Beziehungen spricht, ergibt selten mehr Sinn als in „Universal Metabolism“. Jeder und jede sieht und entdeckt in dieser zeitbasierten Ausstellung etwas anderes. Sie gleicht dem Blick auf den Alexanderplatz vom Fernsehturm – man sieht nur, was man sieht, als man da war. Diese Ausstellung hat Hunderte von Stunden Zeit im Rücken. „Universal Metabolism“ gibt als Format die Idee auf, „alles“ zeigen zu können, sie macht stattdessen das Zeigen und den Augenblick des Ereignisses selbst zum Thema. Anders als im klassischen White Cube des Ausstellungsraums warten die Objekte der Schau hier nicht in scheinbarer Neutralität, sondern werden aktiv, erscheinen und verschwinden und verwischen die Grenze zwischen Werk und Publikum, indem der individuelle Rhythmus der Besucher beim Betrachten der Werke auf deren Zeitcode trifft.
Gut die Hälfte der Werke von rund dreißig Künstlern ist in „Universal Metabolism“ durchgehend zu sehen, penibel herausgeleuchtet aus dem Dunkel der Halle sieht man im ersten Obergeschoss eine große Serie von Grafiken, die der Gynäkologe und populäre Autor Fritz Kahn in den 20er-Jahren als Illustrationen der Stoffwechselvorgänge im menschlichen Körper in Auftrag gab. Es sind Kunstwerke, die surreal fantasievoll und zugleich wissenschaftlich bildend wirken. Umgeben sind diese klassisch ausgestellten Objekte von Installationen, in denen Filme von Deborah Stratman oder Soia Boyce oder James Richard und Steve Reinke zu sehen sind. Und immer wieder von Performances, die ankündigungslos ihre eigene Welt erschaffen.
Am Rande einer Bühne bewegt sich im Dämmerlicht eine Figur, die eine Kerze entzündet. Ihre tänzerischen Bewegungen erstarren plötzlich in einer Geste des Lauschens in den Saal, worauf sich auf der Leinwand hinter der Figur die Sprache entzündet. Dieser Moment ist der Auftakt von Romeo Castelluccis Arbeit „The Third Reich“, dem wahrscheinlich eindringlichsten Werk der Ausstellung. Es lässt auf einer riesigen Leinwand einen sich konstant beschleunigenden Strom alle Substantive eines Wörterbuchs erscheinen, also von allem, was in der Welt einen Namen hat. Dieser Fluss der Wörter folgt dem Takt der Musik Scott Gibbons und liegt pro Wort im Bereich einer Zwanzigstelsekunde. Bald übersteigt das Tempo die Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens und wird zum hypnotischen Rausch, eine Erfahrung, die Arthur Jaffa ähnlich eindringlich mit seinem Bilderstrom „Apex“ erzeugt.
Nachdem das letzte Wort auf der Leinwand verklungen ist, löst sich die Gruppe der Besucher auf und trifft einige Minuten später auf einen zwergenhaft kleinen Space Boy, dessen gesamter Körper und Kopf von einem Spiegelstein-Kostüm bedeckt ist. Im Licht von zwei Taschenlampen funkelt dieser winzige Riese wie ein Stern und schickt seine Strahlen in alle Richtungen, bis sich diese Choreografie mit dem Gesang einer Opernarie vor der Liveübertragung einer raumhohen Leinwand vereint. Diese sich stündlich wiederholende Performance von Laxlan Petras und Yasmin Saleh mischt sich unter die Gäste, kommt aus dem Dunkeln und verschwindet wieder in ihm.
„Universal Metabolism“ präsentiert eine Fülle von Begegnungen zwischen bildender Kunst und Klangkunst, liest den brutalistischen Betonraum des Kraftwerks Mitte selbst als eine Skulptur, leuchtet seine Öffnungen aus und inszeniert im Untergeschoss die Ausblicke in unbetretbare Kellerräume als die „natürlichen“ Rahmen der Zeichnungen von H.J. Huwman, die von der Ambient-Musik von Ain Bailey begleitet werden. So erleben wir Kunst in der Regel zu Hause, bei Freunden, aber fast nie in Ausstellungen.
Was heißt es, „zeitgenössisch“ zu sein? Die Berliner Schaubühne hat einmal gesagt, die Zeit zu genießen. In der zeitgenössischen Kunst hingegen werden vor allem die Formate hinterfragt, in denen sie sich realisiert. „Universal Metabolism“ verändert das System des Ausstellens oder macht die Veränderungen des Systems, in dem wir leben, erfahrbar. Der White Cube oder die Black Box des Theaters waren einmal eine Erfindung von etwas Neuem, und das ist „Universal Metabolism“ auch, es öffnet diese Box. Für diesen Sprung raus aus der traditionell konfektionierten Erfahrung von Kunst braucht es in Berlin Orte wie das Kraftwerk Mitte.
Beim Verlassen des Gebäudes begegnen die Besucher Cyprien Gaillards metallisch roten Skulptur eines weinenden Buddhas, der seinen Kopf vornübergebeugt in seinen Händen verbirgt. Wie fast alle Arbeiten von Gaillard beruht auch seine „absorbing figure“ auf der Verwandlung eines Materials mit Vorgeschichte und zahllosen Referenzen. Eine ähnliche Figur unbekannter Herkunft, die Gaillard in einem Museum in Rotterdam entdeckte, wird im British Museum mit der Interpretation verbunden, dass diejenigen, die diesen weinenden Buddha berühren, Linderung von ihren Sorgen erfahren. Ein ähnliches Glück war es, diese absorbierende Ausstellung zu besuchen.