Als Teenager verprügelte Max den Lebensgefährten seiner Mutter. Aus Rache, weil er mitbekam, dass der seine Schwester vergewaltigt hatte. Der Berliner Teenager kam für drei Jahre ins Gefängnis. Bernd Siggelkow, Theologe und Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks Die Arche und sein Pressesprecher Wolfgang Büscher erzählen seine Geschichte in ihrem neuesten Buch „Das Verbrechen an unseren Kindern“ (Bonifatius-Verlag). Sie wollen nach fast 30 Jahren sozialer Arbeit gravierende Missstände aufdecken, in Politik und Gesellschaft, und nennen die beim Namen, die Schuld haben an allem, was schiefläuft.



Herr Siggelkow, wie definieren Sie den Begriff Kinderarmut?

Ein Junge aus der Arche wurde mal von einem Journalisten gefragt, ob die Familie arm sei. Da hat er gesagt: „Nein, wir sind nicht arm, wir haben nur kein Geld.“ Er hat seine Situation damals schön beschrieben, denn es geht ihm gut und seine Mutter versucht, möglichst alle Probleme von ihm fernzuhalten, aber sie können sich vieles nicht leisten. Auf der anderen Seite gibt es auch die finanzielle Armut, die einhergeht, mit der emotionalen Armut und diese Kombination ist in den letzten Jahren immer stärker gewachsen. Weil die Eltern perspektivlos sind und diese Perspektivlosigkeit häufig an ihre Kinder weitergeben und sie nicht fördern können. Kinderarmut ist in erster Linie eine Chancenungleichheit. Die spiegelt sich auch in der Bildung weiter. Eltern, die mehr Geld zur Verfügung haben, können ihre Kinder anders fördern, unter anderem an Privatschulden anmelden.



Wäre der Begriff Familienarmut dann nicht passender?

Kinderarmut geht immer einher mit Elternarmut. Warum gibt es arme Kinder in einem reichen Land? Deshalb bin ich auch so ein Feind des Bürgergeldes. Die ganze Alimentierung von Kindern ist keine gute Lösung, weil sie eigentlich Vorbilder suchen und in ihren Eltern keine Vorbilder finden, weil die nicht arbeiten gehen. Und am Ende nehmen sie sie doch als Vorbilder, um am Ende selbst Bürgergeld zu empfangen.



Was ist der Unterschied zur Armut früher und heute?

Früher gab es noch Werte. Auch in den Familien, die kein Geld hatten. Es gab trotzdem eine gewisse Vorstellung vom Leben und Regeln, auch in den Schulen. Damals hatte der Lehrer noch ein gewisses Ansehen. Wenn man mal zum Direktor musste, hat man als Schüler noch Haltung angenommen. Was aber damals und heute gleich ist, dass es nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine emotionale Armut gibt.

Was sind die Folgen, wenn Kinder in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen?

Wenn heute ein Kind als arm auffällt, wird es in der Schule häufig gemobbt. Deshalb wünschen sich solche Kinder häufig Markenklamotten oder ein Smartphone zum Geburtstag, statt Spielzeug, um nicht gleich als arm aufzufallen. Sie setzen sich dann schneller mit einer Erwachsenenwelt auseinander, wenn sie nicht mehr spielen. Hinzu kommt das Problem der Perspektivlosigkeit. Die Kinder denken nur noch für den Tag. Als ich vor vielen Jahren die erste Suppenküche eröffnet habe, kamen viele der 480 Kinder einmal im Monat mit einem Döner in der Hand zu mir, um zu demonstrieren, dass sie gar nicht arm sind. Dass sie aber die anderen 22 Tage das Essensangebot nutzen mussten, weil sie zu Hause nichts zu essen bekamen, haben sie gar nicht wahrgenommen. Weil sich auch ihre Prioritäten verschoben haben und sie sich damit identifiziert haben, was sie haben und nicht, was sie sind. Und heute haben wir schon Fünftklässler in der Arche, die bereits wissen, dass ihre Chancen später mal Bürgergeld zu empfangen, größer sind, als den Schulabschluss zu schaffen.

In kaum einem europäischen Land gibt es so ein großes Hilfsangebot wie in Deutschland. Wieso sind manche Eltern nicht dazu in der Lage, ihren Kindern etwas zu essen zu geben?

Die Eltern haben keine Aufgabe. Was ihnen fehlt, ist nicht Geld, sondern Würde und eine Perspektive. Dieses vermittelt man ihnen über existenzsichernde Arbeitsplätze. Doch die fehlen. Wir haben in Hellersdorf viele Familien und alleinerziehende Mütter, die arbeiten und trotzdem Zusatzleistungen beantragen müssen. Sie gehen ja arbeiten und trotzdem müssen sie beim Jobcenter betteln gehen. Diese Eltern wollen Vorbilder für ihre Kinder sein, aber es gibt ihnen niemand eine Chance. Und überall, wo diese Menschen um Hilfe bitten, werden sie nach der Bescheinigung ihrer Bedürftigkeit gefragt. Das nimmt ihnen die Würde. Ein Grund, warum manche Eltern die Zusatzleistungen gar nicht in Anspruch nehmen mögen. Und wenn diese Eltern ihren Kindern immer wieder moralischen Beistand geben, aber selbst keinen bekommen, bleiben sie selbst auf der Strecke. Und dann haben sie morgens irgendwann nicht mehr die Motivation, um aufzustehen und ihren Kindern ein Frühstücksbrot zu schmieren. Und das geht nun schon seit Generationen so. Man kann diese Menschen nicht verurteilen. Wer gibt ihnen denn einen Wert? Ich glaube, wir sollten viel mehr darüber nachdenken, Arbeit zu subventionieren als Kinder zu alimentieren.

Warum ist die Kinderarmut in Berlin besonders schlimm?

Wir haben ein großes Migrationsproblem in der Stadt. Wir haben unglaublich viele Bewohner, die in Ghettos leben. Sie besuchen Brennpunktschulen, in denen die Lehrer nicht mehr Herr der Lage sind. Wir schaffen Ballungsgebiete mit armen Menschen wie in Hellersdorf. Dort leben überwiegend Bürger, die ihre Mieten woanders nicht mehr bezahlen können. Im Prinzip sind die vielen Probleme in Berlin auch hausgemacht.



Inwiefern sind sie hausgemacht?

Wir haben auch eine Schere in Berlin und grenzen aus. Als Arche wollen wir niemanden ausgrenzen und jedes einzelne Kind fördern können, unabhängig von seiner Herkunft. Diese Herausforderung wird für uns täglich größer. Denn wir haben ein starkes Einwanderungsproblem. Die Bevölkerungsanzahl wächst, weil immer mehr Geflüchtete zu uns kommen und auch immer mehr Kinder mitbringen. Doch unser Sozialsystem und unsere Infrastruktur sind dadurch völlig am Limit. Die Schulen und Kitas sind überlastet, wir haben viel zu wenig Lehrer und Erzieher und wir haben zu wenig Wohnraum, noch nicht mal für unsere eigenen Kinder. Trotzdem versprechen wir immer mehr Menschen, Schutz, Geld und eine Wohnung zu geben, aber im Grunde können wir das nicht mehr leisten. Wenn ich in der Arche in Hellersdorf Geld habe, um 200 Kinder aufzunehmen, kann ich auch keine 500 einladen. Eigentlich müsste man die Einwanderung begrenzen und erst einmal die Infrastruktur verbessern, in dem man mehr Wohnraum und Kitaplätze schafft sowie mehr Lehrer ausbildet. Erst dann kann man die Türen wieder öffnen.



Sie greifen die Politiker stark an und bezeichnen sie unter anderem als „narzisstische Luftpumpen“. Was veranlasst Sie zu dieser harten Kritik?

Die Zeit der weichgespülten Sätze ist vorbei. Man muss mal Ross und Reiter benennen und sagen, so geht es nicht weiter. Wir provozieren auch mit Absicht, damit es überhaupt einmal Lösungsansätze gibt. Wenn Politiker in der Öffentlichkeit reden, müssen sie auch die Kritik aus der Öffentlichkeit hinnehmen können und die andere Meinung aushalten. Wenn man Politiker ist, hat man eine große Verantwortung und da kann man sich nicht wie Christian Lindner hinstellen und sagen, Kinderarmut liegt daran, weil wir so viele Kinder ins Land gelassen haben. Das sind Luftpumpengespräche meiner Meinung nach, denn die Kinderarmut gab es bereits vor 2015 und da versucht er, sich nur rauszureden. Man muss als Politiker auch zu seinen Fehlern stehen, sonst macht es einen unglaubwürdig und das führt zu Frust bei den Wählern. Es macht mich wütend, wenn man über Schicksale von Kindern entscheidet, obwohl man die Probleme gar nicht kennt.



Wie kann die Kinderarmut aus Ihrer Sicht dauerhaft bekämpft werden?

In erster Linie müsste sich das Schulsystem am Kind orientieren und nicht umgekehrt. Das Geld müsste ins Bildungssystem fließen und beim Kind direkt ankommen und nicht nur durch Alimentierung von Familien. Unsere staatlichen Kitas und Schulen müssen besser ausgestattet werden. Es muss endlich die Anzahl der Betreuungsplätze geben, die man versprochen hat. Ich hatte schon einmal vorgeschlagen, eine Bezahl-App zu installieren. Die funktioniert so: Wenn ein Kind zum Beispiel Nachhilfeunterricht braucht, geht es mit seiner Mutter zur Nachhilfeschule. Dort wird das Handy aufgelegt und das Geld wird vom Jobcenter automatisch gezahlt und nicht vom Konto der Eltern. Vielleicht sollte man sich auch überlegen, an den Schulen ein kostenloses Frühstück einzuführen, denn 25 Prozent unserer Kinder gehen morgens ohne zu essen in die Schule und können sich gar nicht konzentrieren. Wenn wir das hinbekommen würden, sprechen wir auch nicht mehr über arme Kinder, sondern über Gleichbehandlung.



Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Kinder?

Mir ist wichtig, dass man die Kinder nicht als Zukunft, sondern als Gegenwart sieht. Dass man viel investiert, um den Kindern einen Weg zu vermitteln, der uns als Gesellschaft weiterbringt. Wir reden über geburtenschwache Jahrgänge. Viele Menschen gründen erst gar keine Familie, weil sie sich den Lebensstandard nicht mehr leisten können. Kinder dürfen kein Luxusartikel sein. Man muss den Eltern den Rücken freihalten und braucht eine ganze Gesellschaft, die dazu beiträgt, dass es den Kindern gut geht und sie glücklich sind.



Interview: Kerstin Hense