Dienstag, 26. August 2025, Berliner Zeitung
Halbwahrheiten reichen nicht
Nicolas Butylin
Es war einer der schwersten Anschläge auf die europäische Energieinfrastruktur. Im September 2022 wurden drei von vier Strängen der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee zerstört. Ein 49-jähriger Ukrainer sitzt nun im italienischen Bologna im Gefängnis. Er wird verdächtigt, an der Sprengung der Pipelines beteiligt gewesen zu sein. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm gemeinschaftliches Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und verfassungsfeindliche Sabotage vor. Die Justizministerin jubelt: Ein Durchbruch in den Ermittlungen!
Man könnte meinen, die Republik würde nun engagierte Aktivitäten entfalten. Immerhin geht es hier um einen der spektakulärsten Angriffe auf ein deutsches Energieprojekt. Ein Fall für die Geschichtsbücher, mit Sicherheit wird man den Anschlag irgendwann auch verfilmen. Doch die Reaktion im politischen Deutschland? Funkstille.
Statt harte politische Konsequenzen zu ziehen, verharrt die Bundesregierung in einer merkwürdigen Schockstarre. Dabei müsste das Auswärtige Amt eigentlich den ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew einbestellen – so, wie es in der Diplomatie üblich wäre, wenn Staatsbürger eines anderen Landes ein milliardenschweres Infrastrukturprojekt in die Luft jagen.
Sergej K., so heißt der Festgenommene, habe zu einer Gruppe von Personen gehört, die im Herbst 2022 nahe der Insel Bornholm Sprengsätze an den Gaspipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 platzierten, hieß es in der Mitteilung der Bundesanwaltschaft. „Bei dem Beschuldigten handelte es sich mutmaßlich um einen der Koordinatoren der Operation.“ Übereinstimmenden Medienberichten zufolge ist der Ukrainer ein ehemaliger Agent des Geheimdienstes SBU.
Sollten also ukrainische Geheimdienste für die Zerstörung der Pipeline verantwortlich sein, deren Baukosten rund 7,4 Milliarden Euro betrugen, dann ist das nicht nur ein „unangenehmer Vorfall“. Es wäre ein Schlag ins Gesicht für Deutschland, denn die Folgekosten der Sabotage bewegen sich für deutsche Steuerzahler in Milliardenhöhe.
Zur Erinnerung: Deutschland gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine, ist vielleicht sogar der wichtigste in Europa. Seit Februar 2022 haben die unterschiedlichsten politischen Verantwortlichen hierzulande über 70 Milliarden Euro für die Ukraine mobilisiert: zivile und militärische Hilfen, Unterstützung für Geflüchtete, Wiederaufbauprojekte, Infrastrukturmaßnahmen. Machen wir uns ehrlich: Ohne das Geld der Steuerzahler in Deutschland sähe die Lage für die ukrainische Bevölkerung ganz anders aus.
Doch die deutsche Politik – von der CDU über die SPD bis zu den Grünen – schweigt, duckt sich weg. Wird jemand, aus welcher Behörde auch immer, Konsequenzen ziehen und zurücktreten? Wohl kaum. Stattdessen kursiert immer noch das alte Narrativ, wonach Moskau womöglich seine eigene Pipeline gesprengt habe, angeblich, um „ein Signal“ zu senden.
Johannes Peters vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel vermutete im ARD-„Morgenmagazin“, Russland wolle Europa damit demonstrieren, dass es auch in der Lage sei, norwegische Pipelines zu zerstören. Diese Einschätzung teilte Carlo Masala, Professor an der Münchener Bundeswehr-Universität, der die Anschläge als bewussten Versuch des Kremls deutete, im Westen Verwirrung zu stiften. All diesen Experten sei angeraten, ihre Expertise einmal kritisch zu hinterfragen.
Es bleiben zudem offene Fragen. Welche Rolle spielen die USA? Der ehemalige amerikanische Präsident Joe Biden hatte bereits Wochen vor Kriegsbeginn in der Ukraine unmissverständlich erklärt, dass im Falle einer russischen Invasion Nord Stream 2 „Geschichte“ sei. Vom damaligen Kanzler Olaf Scholz, der im Februar 2022 in Washington zu Besuch war, gab es keinerlei Widerspruch. Eine irrwitzige Gemengelage, die es so niemals hätte geben dürfen. Dann braucht man sich auch nicht wundern, wenn in Ost, West und Süd Deutschland immer häufiger als Vasall der Vereinigten Staaten wahrgenommen wird.
Noch absurder ist das Märchen von einem ukrainischen „Segelbootkommando“, das unbemerkt in der Ostsee agierte. Jeder, der einmal eine Nato-Übung im Baltikum näher verfolgte, weiß: Die Ostsee gehört zu den bestüberwachten Gewässern der Welt. Kein Frachter, kein U-Boot, kein Fischerboot entgeht den ultramodernen Überwachungsradaren der Dänen, Schweden und Polen.
Und ausgerechnet eine kleine Gruppe ukrainischer Saboteure soll dort ungestört einen hochkomplexen Anschlag durchgeführt haben? Glaubt das wirklich jemand? Dass außerdem Länder wie Schweden oder Dänemark ihre Ermittlungen zu dem Fall bereits eingestellt haben, sagt ebenfalls viel aus.
Viel wahrscheinlicher ist, dass größere Geheimdienste ihre Finger im Spiel hatten. Denn eine Operation dieser Größenordnung dürfte ohne Wissen und Abnicken westlicher Behörden schier unrealistisch gewesen sein.
Die eigentlichen Fragen, die sich die Ermittler in Karlsruhe stellen sollten: Wer wusste wann was? Haben deutsche Dienste Hinweise gehabt, vielleicht sogar einfach zugesehen? Hält man die eigene Bevölkerung weiter mit Halbwahrheiten hin?
Wenn sich der Verdacht bestätigt, dass staatsnahe ukrainische Täter hinter der Sabotage von Nord Stream stehen, ist das kein „politisches Missverständnis“ mehr. Es ist ein Angriff auf die kritische Infrastruktur in unserem Land.
Und die Bundesregierung und Kanzler Merz dürfen sich nicht zu Komplizen machen und diesen Skandal einfach unter den Teppich kehren. Es wäre das Mindeste, Antworten aus Kiew einzufordern.