Nach jahrelangem Streit wurde am 23. August 2025 die Mohrenstraße in Berlin-Mitte in Anton-Wilhelm-Amo-Straße umbenannt. Den Initiatoren gilt „Mohr“ als rassistischer Begriff. Und Anton Wilhelm Amo als „erster afrodeutscher Akademiker“, über den es heißt, er sei als Junge im heutigen Ghana versklavt worden und als „menschliches Geschenk“ der Westindischen Kompanie an den Hof des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel gekommen.

Wenige Wochen nach der Umbenennung meldet sich nun der Sklavereiforscher Michael Zeuske zu Wort. In einem Artikel, den er exklusiv für die Berliner Zeitung geschrieben hat, berichtet er von einem Archivfund, aus dem hervorgeht, dass Anton Wilhelm Amo kein Sklave war, sondern „zur Elite einer politischen Gemeinschaft“ gehörte, „die Sklaven hielt und Kriegsgefangene sowie Sklaven an die verbündeten Niederländer lieferte und verkaufte“.

Eine Neuigkeit, die die Umbenennung der Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße nachträglich ins Wanken bringen dürfte. Denn im Berliner Straßengesetz heißt es, die Benennung nach Personen, Orten, Sachen oder Ereignissen, die mit dem Kolonialismus oder der Sklaverei zusammenhängen, sei unzulässig.

Die Berliner Zeitung hat Michael Zeuske zu seinen Erkenntnissen befragt. Es gab ein Treffen am Berliner Hauptbahnhof auf seiner Reise von einer Konferenz in Frankfurt (Oder) nach Leipzig. Und ein Gespräch, das online stattfand.

Herr Zeuske, wie sind Sie in Ihrer Forschung auf Anton Wilhelm Amo gekommen?

Ich habe ein Buch über die Geschichte der Sklaverei geschrieben und mich dabei auch mit den Schwarzen in Europa beschäftigt. Amo war dabei immer eine Größe. Verwunderlich fand ich stets, dass zwar über den Beginn seiner Biografie gerätselt wurde, es aber keine Aufklärung gab.

Jetzt haben Sie ein Dokument aus dem Jahr 1706 gefunden, das Aufklärung bietet. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Ich habe Constanze Weiske, eine junge Kollegin, die sehr intensiv in niederländischen Archiven forscht, gefragt, ob sie schon einmal etwas über Amo gefunden habe. Sie kannte eine Quelle von 1746, die belegt, dass Amo nach seinem Aufenthalt in Europa auf eigenen Wunsch und ohne Kosten von den Holländern zurück in seine afrikanische Heimat befördert wurde. Sie suchte weiter und fand in den Online-Beständen des niederländischen Nationalarchivs ein zweites Dokument aus dem Jahr 1706, in dem steht, dass Amo als Junge bei seiner Fahrt von Afrika nach Europa dem deutschen Sergeanten Christian Bodel mitgegeben worden ist. Davon schickte sie mir Bildschirm-Fotos.

Wann war das?

Im Dezember 2024 hat mir Frau Weiske die Dokumente geschickt. Ich war aber so mit anderen Projekten beschäftigt, dass ich nur kurz darauf geschaut habe. Als im August die Nachricht kam, dass die Umbenennung der Mohrenstraße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße vollzogen wird, habe ich entschieden, das sauber aufzuarbeiten, die historische Wahrheit zu zeigen.

Haben Sie die Diskussion über die Umbenennung der Mohrenstraße verfolgt?

Ja, über die Texte von Thomas Sandkühler, Götz Aly und Ulrich van der Heyden. Da ich nicht nur Sklavereiforscher, sondern auch Humboldtianer bin und „Mohrenstraße“ nicht für eine rassistische Bezeichnung halte, habe ich gedacht, schön ist das nicht. Aber es war eine Berliner Angelegenheit, und es gibt ähnliche Fälle in vielen anderen Städten. Daher habe ich mich nicht zu Wort gemeldet. Ich greife in solche aktivistischen Angelegenheiten nicht ein.

In gewisser Weise tun Sie es nun aber doch. Im Berliner Straßengesetz heißt es nämlich, die Benennung nach Personen, Orten, Sachen oder Ereignissen, die mit dem Kolonialismus oder der Sklaverei zusammenhängen, sei unzulässig. Wenn Sie die Entdeckung eher bekannt gemacht hätten, wäre es womöglich nicht zur Umbenennung gekommen.

Ja, aber ich hatte vorher keine Zeit. Und so eine Archivsuche ist eine lange Feldforschung. Ich brauchte für die Übersetzung des Dokuments von 1706 aus dem älteren Neu-Niederländischen die Hilfe von niederländischen Kollegen.

Was genau steht in dem Vertrag?

Es ist ein Vertrag, in dem europäische Sklavenkäufer und afrikanische Sklavenverkäufer ihr gegenseitiges Verhalten regeln. Also: für den Fall eines schlechten Verhaltens der Europäer reagieren die Afrikaner soundso; wenn sich die Afrikaner schlecht verhalten, reagieren die Europäer soundso. In diesem Zusammenhang steht auch die Regelung, dass die Afrikaner den Europäern entlaufene Sklaven zurückliefern.

Kennen Sie ähnliche Verträge zwischen Afrikanern und Europäern, in denen es um Sklaven geht? War so etwas damals normal?

Verträge kenne ich viele, aber sie sind schwer vergleichbar. Man muss auch bedenken, dass nur die europäische Seite schriftliche Dokumente hinterlassen hat, in diesem Fall die holländische. Aus den Verträgen geht eindeutig hervor: Die Niederländer waren um 1700 nicht die Machthabenden, die Afrikaner waren nicht die Kolonialisierten. Die Niederländer waren gleichrangige Partner und konnten an der westafrikanischen Küste ihre Festungen nur mit Erlaubnis der lokalen Machthaber bauen. Im Fall unseres Dokuments waren das die Caboceers, die ihre Unterschriften unter den Vertrag gesetzt haben.

Wie kann man sich die Umstände dieser Vertragsunterzeichnung vorstellen?

Die beiden Vertragsparteien trafen sich in der letzten von den Niederländern gebauten Sklavenfestung der Region – Fort Goede Hoop im heutigen Ghana. Vermutlich saßen sie an einem Tisch. Dann wird es einen Schreiber gegeben haben, der einen Entwurf aufzeichnete und den in Reinschrift brachte. Man sieht, dass der Text relativ schnell geschrieben wurde. Dann wurde unterzeichnet.

Was sagt Ihnen die Tatsache, dass Amo, der damals noch ein achtjähriges Kind war, diesen Vertrag selbst unterschrieben hat?

Das ist ein Ausweis für seinen Elitestatus. Einer von den Caboceers oder seine Mutter wollten das so. Der Knabe soll – oder er will es selbst – nach Europa gehen und braucht Schutz. Den bekommt er durch Christian Bodel aus Rochlitz in Sachsen, den Vertreter der Westindischen Kompanie.

Sind Ihnen andere Fälle von afrikanischen Elitefamilien bekannt, die ihre Kinder zwecks Ausbildung nach Europa geschickt haben?

Ich habe einige solcher Fälle aufgearbeitet. Das war durchaus Normalität. Aber es handelt sich natürlich um eine Minderheit – angesichts der zwölf Millionen Menschen, die als Sklaven über den Atlantik nach Amerika gebracht worden sind.

Dass Bodel den jungen Amo nach Europa brachte, war bekannt. Dass er ihn beschützt hat, weil er aus einer besonderen Familie kam, nicht. Es war von Verschleppung die Rede. Wie kann das sein?

Mit Amo beschäftigen sich vor allem Philosophen – er war ja selbst Philosoph. Es gibt auch Kulturhistoriker, Ideengeschichtler – die sind aber nicht für intensive Archivforschung bekannt. Offenkundig ist die bisher nicht erfolgt. Vielleicht wollte man aber auch nicht wahrhaben, dass Amo aus einem afrikanischen Sklaverei-Regime stammt. Ich selbst habe erst um 2005, nach 15 Jahren Beschäftigung mit der karibischen und amerikanischen Sklaverei, gewagt zu sagen: Afrikaner, Araber oder Berber haben in Afrika Menschen in Massen versklavt. Vor 1850 haben fast ausnahmslos Afrikaner Razzien-Krieg geführt, um Sklaven zu nehmen. Portugiesen waren manchmal als Hilfskräfte dabei. Die meisten Publikationen zur Sklaverei stammen aus dem anglophonen Bereich – aus Europa oder den USA. Dort hat man in der allgemeinen Debatte nicht gewollt oder gewagt, diese Wahrheit auszusprechen.

Warum nicht?

Weil sie nicht zur Debatte in den USA gepasst hat, in der die Afrikaner immer nur die Opfer sind, die von den Amerikanern und Europäern aus Afrika entführt wurden. Dem ist keinesfalls so. Alle Afrikahistoriker wissen das, aber das Wissen schafft es nicht in die allgemeine Debatte.

Was war der Unterschied zwischen dem Sklavenhandel innerhalb von Afrika und dem der Europäer und Amerikaner?

Die Verschiffung war der Unterschied und die Systematisierung. Beim Transport galten gewisse Regeln, gewisse Preise. Der Sklavenhandel und -transport wurde von den Europäern und allen Amerikanern, auch Lateinamerikanern, zu einem strukturierten Wirtschaftssystem ausgebaut.

Systematisierung klingt grausamer.

Das kann ich nicht sagen. Wir haben Berichte über gigantische Sklaventransporte innerhalb von Afrika, tausend Menschen mit Seilen aneinandergebunden. Die Berichte sind vor allem von Europäern, Missionaren, Kapuzinern und Jesuiten, kaum von Afrikanern. Man kann das als Gräuelpropaganda abtun. Ich würde aber davor warnen, weil bekannt ist, dass es Transporte von Sklaven aus dem Inneren von Afrika an die Küste gab, um sie dort an die Europäer zu verkaufen oder zu tauschen.

Wird die Sklaverei innerhalb Afrikas aufgearbeitet?

Auf jeden Fall. In Kamerun zum Beispiel gibt es ganz exzellente Forscher, auch im Senegal. Zig Bücher. Aber insgesamt ist das Wissen in Europa und in Süd- und Nordamerika gering. Ich habe mal in Spanien einen Doktoranden nach der Sklaverei in seinem Heimatland Gabun gefragt. Er sagte: Bei uns in Gabun hat es nie Sklaverei gegeben. Das hat auch damit zu tun, dass andere Begriffe benutzt werden. Wenn sich ein Mann zum Beispiel 20 Frauen eingekauft oder geraubt hat, nannte man das Brautwerbung und nicht Sklaverei. Das zu verstehen, ist extrem schwierig.

Was konnte ein achtjähriger Afrikaner wie Amo damals über Sklaverei wissen? Auf dem Schiff, mit dem er nach Europa kam, befanden sich Sklaven?

Ich befasse mich gerade erst mit dem Schiff, und es ist so, dass Sklaven nicht auf den Passagierlisten stehen. Sie werden – ohne Namen – in den Cargolisten erfasst, nur mit Geschlecht und Alter. Das waren die entscheidenden Faktoren für die zu erwartende Produktivität dieser Menschen. Sklavenhändler oder Schiffseigner hatten kein Interesse, sie als Individuen zu sehen.

Aber was wusste Amo davon? Und kann man ihn überhaupt dafür haftbar machen, in welchem Umfeld er aufwuchs?

Dass er aus so einem Zusammenhang stammt, dafür kann er absolut nichts. Alles andere wäre Sippenhaft. Er selbst kann auch nicht am Sklavenhandel beteiligt gewesen sein. Er hat maximal in einem Haus, einem Palast, einem Dorf gelebt, in dem Sklaven gehalten wurden. Das war damals absolut normal in afrikanischen Gesellschaften. Ich bin der ganz festen Überzeugung, dass die Lebensleistung von Amo als großer transkultureller Philosoph davon völlig unberührt bleibt.

Als Amo nach 40 Jahren Europaaufenthalt wieder zurück in seiner afrikanischen Heimatregion war, bekam er Besuch von dem Schiffsarzt David Henrij Gallandat.Der berichtet später, ein Bruder Amos sei versklavt worden. Kann das sein, wenn Amos Familie so einen hohen Status hatte?

Das kann sein; es wurden ja dauernd Kriege geführt, und dabei sind hochrangige Krieger von den Siegern versklavt worden.

In diesem Fall dann offenbar mit Namensnennung, was bei „normalen“ Sklaven nicht üblich war?

Gallandat hatte das ja zunächst nur gehört, von Amo. Schiffsärzte waren intime Kenner aller Formen von Sklavereien. Es kann aber durchaus auch Ausnahmen von der Regel gegeben haben.

Als Amo nach Europa kam, lebten dort etwa 85 bis 90 Prozent der Einheimischen in Leibeigenschaft. Was war der Unterschied zu Sklaven?

Die Versklavten wurden aus Regionen in Afrika über den Atlantik verschifft, drei Wochen lang, extrem brutal, mit Luftmangel, auf Holz liegend. Leibeigene dagegen blieben in ihren Gegenden, haben immer eine Gruppe gebildet, mussten Arbeitsleistungen in wirtschaftlicher Teilsklaverei erbringen, z.B. drei Tage Feldarbeit, ein Tag im Stall. Es drückt der Name schon aus: Wenn mein Leib einem anderen eigen ist, ist das auch Sklaverei – eine der vielen Formen von Sklavereien, hier halt eine europäische.

Was ist der größte Irrtum über Sklaverei in der heutigen Zeit?

Es gibt seit mehr als 3000 Jahren in Quellen nachgewiese Sklavereien, real wahrscheinlich viel länger, mit unterschiedlichsten Namen, Gesetzen, religiösen Begründungen. Das ist schon mal schwer zu verstehen. Die atlantische Sklaverei von 1450 bis 1900 ist nur eine Phase dieser langen Geschichte. Alle Völker hatten Sklaven, haben Sklaven getötet und Sklavenhandel betrieben.

Können Sie Beispiele nennen?

Römer, Griechen, Juden, Osmanen, Araber, Mongolen, Preußen, Sachsen, Portugiesen, Inder, Franzosen, Engländer, Chinesen, Spanier, Russen, US-Amerikaner, Dänen, Kosaken, Comanchen, Kariben, aber auch Inka, Maja und Azteken. Ein Kollege hat ein Buch geschrieben, in dem er auf 2,5 bis 5,5 Millionen versklavte Indigene der Kolonialreiche, vor allem Spaniens, trotz formalen Verbots, kommt. Das sind halb so viele Menschen, wie aus Afrika gekommen sind.

Sie schreiben in Ihrem „Handbuch der Sklaverei“, dass Sklaverei bis heute nicht abgeschafft ist. Wie meinen Sie das?

Bis 1888 wurde die Sklaverei im „Westen“, also in Europa, seinen Kolonien und den Amerikas, überall offiziell abgeschafft. Die letzten, die sie einstellten, waren die Brasilianer 1888, die vorletzten die Spanier und Kubaner, 1886. Aber es gibt natürlich noch illegale Sklaverei, Verkäufe und Transporte von Personen im Zustand einer Versklavung. Kindersoldaten, ein Großteil der Prostitution, Verheiratung minderjähriger Mädchen, Verschuldung.

Aber auch in der Migration, wenn Menschen aus dem Inneren des afrikanischen Kontinents an die Küste kommen und dort wochenlang ausharren müssen, um zu Arbeiten eingesetzt zu werden, die sie nicht wollen, ist das eine Form von Sklaverei.

Was machen Sie jetzt mit Ihrem Wissen über Anton Wilhelm Amo?

Ich werde daraus ein Kapitel meines neuen Buches machen, das sich vor allem mit der Rolle von Archiven befasst. Ein Aktivist werde ich auf keinen Fall, weder für die Rückbenennung der Anton-Wilhelm-Amo-Straße in Mohrenstraße, noch für Amo als Namen für den Flughafen Halle-Leipzig oder sonstwas. Auch wenn ich das mit dem Flughafen gut fände. Weil Amo in Halle tätig war, und weil es ein internationaler Name wäre.

Welche Konsequenz sollte Ihre Entdeckung für Berlin haben?

Die Verantwortlichen sollten überlegen, was sie falsch gemacht haben.