Die Geschichte von Anton Wilhelm Amo ist die eines Menschen aus Afrika, der in postkolonialen Erzählungen oft als erster schwarzer Philosoph im neuzeitlichen Europa in die Nähe der Versklavung und des Opfers gerückt worden ist. Erster schwarzer Philosoph im deutschsprachigen Raum ist richtig, Opfer und Sklave falsch. Der Mann, der sich selbst als Philosoph in Deutschland Antonius Guilielmus Amo Afer ab Aximo nannte, war Elite. Auch in Europa. In Westafrika sowieso.

Amo-Forscherinnen und -forscher, meist Philosophen oder Publizisten, haben sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts zur frühen Biografie von Amo geäußert. Auf der Website der State University of New York heißt es zum Beispiel: „Amo wurde 1703 in der Nähe der heutigen Stadt Axim in Ghana geboren. Im Alter von vier Jahren wurde er von Sklavenhändlern gefangen genommen, nach Niederländisch-Westindien verschleppt, dem Hof vorgestellt und Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel übergeben. Der Herzog übergab ihn seinem Sohn August Wilhelm.“

Im Buch „Anton Wilhelm Amo. Werke in deutscher Übersetzung“, 2023 erschienen, wird im Kapitel „Amos Leben“ gemutmaßt, Amo sei von Seefahrern entführt oder als Kindersklave verkauft und nach Europa gebracht worden. Oder Amo sei nach Europa geschickt worden, „um ihn als Prädikant der Niederländischen Reformierten Kirche zu erziehen“. Es hätten sich bisher keine Quellen gefunden, anhand derer sich eine dieser Möglichkeiten verifizieren lasse, heißt es weiter. „Es ist also möglich, dass Amo als Sklave nach Europa kam. Es ist aber nicht erwiesen.“

Ich will gerne zeigen, dass sich die Biografie des frühen Amo oder „Amoe“, wie er in den Dokumenten genannt wird, mit normaler Archivforschung, die seit Jahren vom sogenannten Dekolonialismus abgeschafft werden soll, durchaus erhellen lässt. Dekolonialismus ist eine theoretische Denkrichtung, die indigenes Wissen aufwertet und „koloniales Wissen“ in Archiven der ehemaligen Kolonialmächte abwertet.

In Bezug auf Amo gibt es damit zwei große Probleme: Seine Herkunftsgemeinschaft war in seiner Lebenszeit nicht kolonialisiert, und fast alle Informationen über die Zeit um 1700 stammen aus eben den Archiven, die infrage gestellt werden.

Archivfeindschaft des Dekolonialismus

Ich bin überzeugter Archivhistoriker und präsentiere zwei Dokumente aus dem Bestand der „Zweiten Westindischen Compagnie (WIC)“ der Niederlande, die sich heute im Nationaal Archief in Den Haag befinden. Sie sind online einsehbar. Ich verdanke die Hinweise darauf Frau Dr. Constanze Weiske, einer exzellenten Archivforscherin. Die Hinweise von Constanze Weiske trafen auf meine langjährigen Forschungen zu Sklavereien und Sklavenhandel (auch in Afrika) und auf meine Bereitschaft, die vielen „kolonialen“ Archive dieser Welt als wichtigste Informationsdepots für das Verständnis von Geschichte und Gegenwart gegen die Archivfeindschaft des Dekolonialismus zu verteidigen.

Übersetzungen aus historischen Quellen sind immer schwierig. Ich passe deshalb den Text dieses wichtigen Zitats in der ersten Quelle von 1746 dem heutigen Deutsch an: „Bezüglich der Petition von Anthonij Willem Amo, geboren in Axim, an der Küste Afrikas gelegen, in der der Bittsteller behauptet, im Jahr 1707 hier ins Land gebracht worden zu sein im Dienst dieser Gesellschaft [WIC – die Westindische Compagnie], dass [er] es dort an der Küste [Afrikas] schon war, dass er mit demselben Bodel nach Braunschweig aufgebrochen war, der dann dort verstorben ist; dass er, Supplikant: danach in den Dienst des Herzogs von Braunschweig trat, der ebenfalls verstorben war; dass ihm, [dem] Supplikant: daher geraten wurde, nach Guinea [in das heutige Ghana; damals wurde fast ganz Westafrika als „Guinea“ bezeichnet] zurückzukehren, er aber keinen Ort dafür finden konnte, und er darum [um] die Erlaubnis bittet, mit dem ersten ausfahrenden oder jedenfalls bereitliegenden Schiff der Gesellschaft [WIC] dorthin übersetzen zu dürfen, woraufhin beraten wurden dem Supplikanten zu gestatten, nach Guinea zu reisen, als Passagier und kostenlos von Transportgebühren [und] überzusetzen zu dürfen, mit dem bereitliegenden Compagnie-Schiff die Catherina Galeij“.

Bei dem erwähnten Bodel handelt es sich um Christian Bodel (oder Bodell), der aus Rochlitz in Sachsen stammte und als Sergeant einen ziemlich hohen militärischen Posten in der WIC einnahm. Amo und Bodel werden in beiden Dokumenten, dem von 1746 und dem nachfolgenden von 1706, immer zusammen erwähnt.

Das entscheidende Problem der Biografie Amos, das sich aus dem Dokument von 1746 ergibt, ist: Welcher Sklave oder ehemalige Sklave, späterer Philosophie-Professor hin oder her, konnte darum bitten, ohne etwas zu bezahlen von Europa nach Westafrika per Schiff transportiert zu werden? Richtig: keiner – völlig unmöglich. Auch wenn das Schiff sicherlich ein ziemlich heruntergekommener Transportkahn war. Die WIC wusste, dass Amo in ihrem Einflussgebiet an der Goldküste zur Elite gehörte und behandelte ihn entsprechend.

Ich habe hier in dieser Dokumentenanalyse den Blick in die Geschichte rückwärts, von 1746 (obiges Dokument) zum Jahr 1706 (folgendes Dokument) gewählt. Warum? Ganz einfach, weil in der Perspektive von 1746, die die Zeit Amos in Europa beschließt, sein Elitestatus deutlich wird, der schon am Beginn seiner Laufbahn zwischen Westafrika und Europa angelegt war. Und weil Bodel erwähnt wird. Das Dokument von 1746 ist vor allem wichtig wegen der Selbstverständlichkeit, mit der Amo die Schiffsreise gewährt wird. Es ist auch wichtig, weil in diesem Dokument geschrieben steht, dass Bodel Amo vor rund vierzig Jahren nach Europa gebracht oder besser geleitet hatte. Eine hochrangige Begleitung für einen hochrangigen Jungen.

Ganz neue Perspektiven auf die Biografie Amos ergeben sich aus dem noch wichtigeren zweiten Dokument von 1706, das bis heute in der Amo-Forschung keine Rolle spielt. Ein Vertrag unter dem Titel „Articúlen & Accord“, der am 11. Dezember 1706 im Fort Goede Hoop in der Zentralregion von Ghana zwischen dem damaligen Generaldirektor der WIC, Peter Nuyts „und dem Caboceer [heute oft als Häuptling oder König übersetzt] Jakon Aúkve in eigener Person und als Bevollmächtigter des ersten Caboceers Jaconpon“ geschlossen wurde.

Der erste Caboceer Jaconpon, der Oberkönig, repräsentiert in diesem Vertrag die Agonnaze Nation in der „landschap Agonna“, einer Art Königreich, zu der für die Niederländer auch Amo gehörte. In dem Vertrag geht es um militärischen Beistand und gegenseitiges Verhalten. Unter anderem wird festgelegt, was passieren sollte, wenn „eenige van de Compagnie Slaaven mogte wegloopen [dass einige der Sklaven der Handelsgesellschaft fliehen könnten]“.

Die wichtigste Stelle in Bezug auf die Biografie von Amo findet sich am Ende des Vertrages, wo Amo in Verbindung mit Christian Bodel steht: „en Christian Bodell Chergeant mitsgad[ers] Amoe“. Amos Unterschrift per Merkzeichen, das die Zahl 8 enthält, findet sich im Original auf der linken Blattseite mit den Unterschriften der Europäer, direkt unter der Unterschrift von Christian Bodel, der Amo später nach Wolfenbüttel gebracht hat. Dass das infolge dieses Vertrages von Ende 1706 geschah, ist das Neue für die Lebensgeschichte Amos.

Auf der rechten Seite des Vertrages haben die Westafrikaner, die aus einer nichtschriftlichen Kultur stammten, ihre Zeichen gesetzt. Sehr unbeholfen Jakon Aúkve, der Caboceer, und seine Makler und Leibwächter (nehme ich an) Alexander und Adjebin.

Die Analyse beider Dokumente erlaubt es uns festzuhalten, dass weder der junge Amo noch der Amo am Hof in Wolfenbüttel jemals Sklave gewesen ist. Der Vertrag von 1706 erlaubt es im Gegenteil, von Amo als Mitglied einer indigenen Sklavenjäger- und Sklavenhalter-Gemeinschaft zu sprechen, die damals Agonnaze-Nation oder Agonnazen genannt worden sind und mit den Niederländern verbündet waren. Ihre Führer – die Caboceers – waren indigene lokale Machthaber, Sklavenzulieferer und -händler sowie Sklavenhalter. Der Junge Amo kann durchaus der Neffe oder Sohn eines solchen Caboceers gewesen sein. Dafür spricht, dass er überhaupt so prominent in dem Vertrag von 1706 erwähnt wird und einen Militär als Schutz und Leibwache neben sich hat.

Amo, zur Zeit des Vertrages vermutlich acht Jahre alt, war nicht selbst Sklavenjäger, Sklavenhalter und Sklavenverkäufer. Aber er gehörte zur Elite einer politischen Gemeinschaft, die Sklaven hielt und Kriegsgefangene sowie Sklaven an die verbündeten Niederländer lieferte und verkaufte. Diese Gemeinschaft wurde von den Niederländern „Morianen“ (Mohren) genannt. Im Gegensatz zu den mit „Neegers“ bzw. „Slafen“ oder „Slaven“ bezeichneten Menschen, waren diese Morianen auch Sklavenjäger, Sklavenhalter und Sklavenhändler, die meist mit den Niederländern kooperierten.

Das ist Transkulturalität

Wenn wir die gesamte Biografie von Wilhelm Anton Amo betrachten, dann staunen wir über einen außergewöhnlichen Mann, der nicht nur die zeitgenössische Philosophie des latein- und deutschsprachigen Mitteleuropas beherrschte, sondern offensichtlich auch die atlantische Kultur der Niederlande gut kannte und in Afrika nach knapp 40 Jahren Europaaufenthalt als Wahrsager und alter weiser Mann anerkannt wurde. Das ist Transkulturalität.

Diese Rolle und der Ruf Amos als wichtigster transkultureller Philosoph Europas und Afrikas am Beginn der Aufklärung bleiben unbenommen. Worauf es mir in dieser Dokumentenanalyse ankam und weiterhin ankommt, ist, die Biografie Amos auf die Füße zu stellen, das heißt hier auf ihren Beginn in einem Sklaverei-Regime. Und zweitens, die Bedeutung von Archiven hervorzuheben, die „Dekoloniale“ am liebsten abschaffen würden. Und es kam und kommt mir darauf an, mittels Forschung die Erkenntnis von historischer Realität zu fördern.