Dienstag, 24. Oktober 2023, Berliner Zeitung
Kein Recht auf Rache in Gaza
Unser Autor verurteilt den Terror der Hamas gegen Israel, aber auch das, was er als kollektive Bestrafung der Palästinenser ansieht
Fabian Scheidler
Etwa 1400 Israelis, die meisten davon Zivilisten, tötete die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel und nahm 200 Geiseln. Mehr als 4200 Bewohner des Gazastreifens sind laut UN bisher durch die israelischen Vergeltungsschläge gestorben, viele davon ebenfalls Zivilisten. Ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht, eine Bodenoffensive droht. Etwa eine Million Menschen in Gaza sind auf der Flucht, doch können sie den winzigen Küstenstreifen nicht verlassen, weil er überall von Zäunen und Mauern umgeben ist. Sichere Zonen gibt es nicht. Israel hat jüngst auch den Süden Gazas bombardiert, nachdem es zuvor die Bewohner des Nordens aufgefordert hatte, dort Zuflucht zu suchen. Den überlebenden Bewohnern droht durch die von Israel verhängte Totalblockade eine humanitäre Katastrophe, weil es an Wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung und Elektrizität fehlt. Da Klärwasseranlagen und Müllentsorgung aufgrund fehlender Energie nicht arbeiten, ist außerdem ein hygienischer Notstand zu befürchten. Israel hat jüngst auch den Übergang zwischen Gaza und Ägypten in Rafah bombardiert, die einzige Straße, über die in nächster Zeit Hilfsgüter nach Gaza kommen könnten – wenn Ägypten und Israel sie durchlassen.
USA stoppen Resolution
Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete in dieser Lage, er stehe „fest an der Seite Israels“. Er hätte auch sagen können, dass er fest an der Seite des Völkerrechts und der Opfer jeglicher Gewalt steht, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Glauben und ihrer Hautfarbe. Er hätte in diesem Geiste auch ein Ende der Eskalationsspirale fordern können, wie die von Brasilien eingebrachte Resolution des UN-Sicherheitsrates, die allerdings per Veto von den USA gestoppt wurde. All das aber hat er nicht getan, sondern rückhaltlos Partei für eine israelische Regierung ergriffen, die allgemein als die rechteste in der Geschichte Israels bezeichnet wird und die, wie bereits ihre Vorgänger, keinen Hehl daraus macht, dass sie an der Einhaltung völkerrechtlicher Normen kein Interesse hat.
Die seit 16 Jahren andauernde Blockade von Gaza ist eindeutig völkerrechtswidrig. Im Jahr 2017, zehn Jahre nach Beginn der Abriegelung durch Israel, kamen die UN in einer Bewertung der Lage zu folgendem Ergebnis: „Viele dieser Maßnahmen verstoßen gegen das Völkerrecht, da sie die gesamte Bevölkerung von Gaza ohne Rücksicht auf die individuelle Verantwortung treffen und somit einer kollektiven Bestrafung gleichkommen. Darüber hinaus hat die Blockade schwerwiegende Auswirkungen auf die Menschenrechte der Bevölkerung in Gaza, insbesondere auf ihr Recht auf Bewegungsfreiheit sowie auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.“ Im Völkerrecht gibt es auch kein Recht auf Rache. Wie brutal und niederträchtig die Angriffe der Hamas auf Zivilisten auch waren, sie bilden keine Legitimationsgrundlage für ein Bombardement von Zivilisten und die Zerstörung der Infrastruktur einer der am dichtesten besiedelten und ärmsten Regionen der Welt.
Wenn sich nun der Kanzler ohne jede kritische Distanz hinter Israels Regierung stellt, dann lässt er das Völkerrecht hinter sich und macht sich zum Komplizen einer illegalen Vergeltungsaktion, die schon jetzt verheerendere Auswirkungen hat als die Verbrechen der Hamas. Zwar hat Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen eingeräumt, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung nur „in dem Rahmen, den das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorgibt“ gelte. Doch forderte sie weder eine Beendigung der Bombardierungen Gazas noch eine Aufhebung der völkerrechtswidrigen Blockade.
Es stellt sich auch die Frage, welche Lehren die hiesige Politik denn aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Wenn es eine Lektion aus der Geschichte zu beherzigen gilt, dann doch wohl diese: dass Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, Herkunft, Hautfarbe und Glaubensrichtung vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu schützen sind. Das gilt für israelische Bürger ebenso wie für die Bewohner des Gazastreifens oder der Westbank. Doch von einem Recht auf Schutz, Verteidigung und Solidarität, das den Bürgern Israels vollkommen zu Recht zugestanden wird, ist in Bezug auf die Palästinenser keine Rede. Nationalität und Hautfarbe entscheiden einmal mehr in Deutschland darüber, wem welche Rechte zuerkannt werden.
„Operation gegossenes Blei“
Deutsche Politiker betonen gerne, dass die Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sei. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn diese Sicherheit nicht auf Kosten anderer hergestellt werden soll. Die Politik von Besatzung, Blockade und Bombardierungen, die Israel seit Jahrzehnten praktiziert, hat die Sicherheit der palästinensischen Bürger erheblich untergraben. Sie hat außerdem Israel selbst unsicherer gemacht. Wenn man wie in Gaza mehr als zwei Millionen Menschen auf unabsehbare Zeit einsperrt, ihnen elementare Rechte verwehrt und sie immer wieder durch Bombenangriffe traumatisiert, wie etwa in der „Operation gegossenes Blei“ im Winter 2008/09 mit 1400 palästinensischen Toten (Israel hatte 13 Opfer zu beklagen), dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwann einige Tausend von ihnen zu massiver Gewalt greifen werden. Wem Israels Sicherheit und die der Palästinenser am Herzen liegt, sollte daran mitwirken, die Spirale der Gewalt zu stoppen und ihre Wurzeln zu beseitigen. Und das bedeutet, die Politik von Besatzung und Blockade zu beenden und den Palästinensern die volle Selbstbestimmung über ihre gesamten Territorien zurückzugeben, so wie es das Völkerrecht vorsieht. Auch wenn dies im Moment schwieriger denn je erscheint, so ist es doch der einzige Weg zum Frieden für Israel und Palästina.
Fabian Scheidler studierte Geschichte und Philosophie und arbeitet als freischaffender Autor für Printmedien, Fernsehen und Theater. 2015 erschien sein Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zuletzt erschien im Piper Verlag „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“. Fabian Scheidler erhielt 2009 den Otto-Brenner-Medienpreis für kritischen Journalismus.