Ein Hashtag von der AfD: #Das ist nicht unser Krieg. Bis heute gehen hier und da in Ostdeutschland Menschen, begleitet von „Freien Sachsen“ oder anderen Rechtsextremen, auf die Straße. Sie demonstrieren gegen den Krieg in der Ukraine, die Sanktionspolitik, die deutschen Waffenlieferungen. Eigentlich keine rechten Themen. Aber auch die ostdeutsche Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht sprach zwar von der Sinnlosigkeit der Gas-Sanktionen, die Putin nur die Profite erhöhen – nur war da wieder dieser Zungenschlag von ihr, die „deutsche Industrie“, als ob es um nationalistische Interessen ginge.

Und dann ist es ein konservativer CDU-Mann, Michael Kretschmer, der am Tag der Einheit von den Unterschieden in Ost und West redete, „auch, was den Blick auf den Krieg in der Ukraine betrifft“. Wahrhaftig, die ostdeutsche Kritik am Krieg im letzten Jahr, das Aufbegehren gegen die damit einhergehende Politik, ist rechtslastig oder, wie es in den Medien oft heißt, „verschwurbelt“.

Schlimmer noch, ich bin auch ostdeutsch und wohl ebenfalls verschwurbelt. Ich gehe zwar nicht auf die Demos, die Rechten dort behagen mir nicht. Aber nach einem Jahr dieses schrecklichen Krieges würde ich gern für dessen Ende, für Verhandlungen, auf die Straße gehen. Schon vorher, glaubt man Civey oder Forsa, gehörte ich zu den rund zwei Dritteln der ostdeutschen Bevölkerung, die gegen Waffenlieferungen und für Verhandlungen waren.

In der jüngsten Forsa-Umfrage hielten 65 Prozent der Ostdeutschen die Panzerlieferungen in die Ukraine für falsch, wogegen knapp 60 Prozent der Westdeutschen sie für richtig hielten. Zwei fast entgegengesetzte Ergebnisse. Offenbar gibt es laut den Studien weitaus mehr Ostdeutsche, die wie ich nicht mit den Rechten auf die Straße gehen und doch arge Probleme haben mit der deutschen Kriegspolitik.

Dazu braucht es keine Verharmlosung des russischen Angriffskriegs wie in AfD-Kreisen. Da überfällt ein großes Land ein kleines, Panzer rollen heran, Soldaten schießen, Bomben fallen. Niemals hätte ich gedacht, dass so schnell Schrecken, Gewalt und Leid wieder über europäisches Territorium hereinbrechen könnten. Und wenn dieses Unrecht durch die Russen geschieht, macht es die Dinge umso schwerer.

Ich meine jedoch nicht reduzierende Erklärungen nach der Art, die Ostdeutschen würden ihren alten Mantel, die Sozialisation unter der russischen Besatzung, nicht ausziehen können, wie die ARD-Dokumentation „Russland, Putin und wir Ostdeutsche“ suggeriert. Nein, es hat vielmehr mit eben solchen medialen Einseitigkeiten zu tun, die ungewollt zeigen, dass es mit der Wiedervereinigung nicht weit her ist. Sie übergehen, dass das Denken in Widersprüchen nach der Wiedervereinigung schwerer wurde und in Zeiten des Krieges kaum noch zulässig ist.

Am 3. Oktober dankte Annalena Baerbock den Amerikanern und Polen für die Wiedervereinigung. Und in ihrer Grundsatzrede in New York im August redete die deutsche Außenministerin von der Wiedervereinigung dank der Amerikaner und Europäer. Sie dankt allen, aber nie den Russen. Eine eigenartige Auslassung, scheint es. Doch auch die Medien geben solche Auslassungen wieder, als ob vom Wetter die Rede gewesen wäre.

Ich war noch klein in der DDR. Aber ich erinnere mich an den Tag im Jahr 1994, an dem die Rote Armee abzog. Als ich von der Schule nach Hause kam, hörte mein Vater Radio in der Küche. Darin wurde von Passanten berichtet, die den russischen Panzern Blumen mitgaben.

Mir schien das übertrieben. Ich kannte aus den nun westlichen Schulbüchern die schlimmen Geschichten über die russische Besatzung. Meine Oma hat von Vergewaltigungen in ihrem Dorf erzählt. Und selbst mein Vater wäre 1980 beinahe ins Gefängnis gegangen, weil er sich einer Einberufung in die Armee verweigerte, die eventuell an der Seite der Roten Armee gegen die Solidarnocz-Bewegung in Polen einmarschieren sollte. Zu dem Einmarsch kam es nicht, er verlor aber trotzdem seine Arbeit. Wieso also die Blumen?

Aber mein Vater sagte: „Wir hätten da auch hingehen sollen.“ Der Tag des Abzugs war nicht das erste Mal, dass ich in Widersprüchen denken lernte. Ja, die Russen waren eine verbliebene Kriegslast für die Ostdeutschen gewesen. Viele sehen die Reparationszahlungen, die politischen Einflussnahmen durch die Russen als Bürde.

Dann wieder waren diese als Funktionäre des Sowjetstaats eigentlich Ukrainer, Georgier oder Balten gewesen, sie waren die größten Kämpfer gegen Hitler und Helfer beim Aufbau eines vergleichsweise wohlhabenden sozialistischen Landes. Der angebliche Mantel war schon immer fleckenhafter, ambivalenter als der der amerikanischen Besatzer im Westen.

Längst keine Erfolgsgeschichte mehr

Und so lernte ich an dem Tag, an dem er offiziell abgestreift wurde, in dem Abzug der Russen auch deren Größe zu sehen. Die Russen, die gegenüber den Amerikanern, Engländern und Franzosen die größte Fläche besetzt hatten und friedlich abzogen, trugen sogar den Löwenanteil der Wiedervereinigung. Sie halfen, den Kalten Krieg zu beenden, den Weltfrieden zu stärken – weit mehr als die Nato, die nicht nur blieb, sondern sich später in Osteuropa ausbreitete.

Ist die Tilgung der Russen aus der Erinnerung an die Wiedervereinigung also einseitig? Die Grüne Annalena Baerbock verweist in der eben zitierten Grundsatzrede auf den amerikanischen Republikaner George W. Bush. Sie will nun dessen Idee einer „American-German Partnership in Leadership“ gern aufnehmen. Sie redet begeistert vom „transatlantischen Moment“, alle würden jetzt die Nato mögen. Und auch ihre anderen Reden im Ukrainekrieg, „für immer von Russland unabhängig“, „jahrelanger Krieg“, klingen, als ob ihr der Krieg gegen Russland ein Uranliegen sei. Befremdliche, parteiliche Sprüche. Wird hier die Rückkehr zum Kalten Krieg gefeiert? Aber nein, das darf nicht gesagt werden, das führt in Richtung Stellvertreterkrieg in der Ukraine und das hieße Verhandlungen.

Besser also gedankliche Verrenkungen, Verschwurbelungen?, die solch ein Denken nicht zulassen. Vergessen wir die Russen während der Wiedervereinigung und am besten die Ossis dabei auch. Denn wer sieht heutzutage eigentlich die Wiedervereinigung noch einseitig positiv?

Im letzten Jahrzehnt nahmen die Veröffentlichungen über das damit verbundene Leid im Osten zu. Die Abwicklungen der Betriebe, der Aufkauf von Land und Besitz, die Abwertungen ostdeutscher Qualifikationen, einige reden von „Kolonialisierung durch den Westen“. Bis heute sind Einkommen und Vermögen von Ostdeutschen niedriger. Und es gibt immer noch Verzerrungen ostdeutscher Vergangenheit, wie der angebliche ostdeutsche Antisemitismus, der doch de facto nach allen westlichen Meinungsinstituten bis 2010 nur halb so stark war wie in Westdeutschland. Kurz, im Osten ist die Wiedervereinigung längst keine Erfolgsgeschichte mehr.

Und für Menschen, die nach der Wiedervereinigung einen Umgang auf Augenhöhe, die Verhandlungen vermissen, ist auch der Blick auf den Krieg davon gefärbt. Während die Medien den historischen Vergleich mit Hitler und seinem Angriffskrieg bemühen, scheinen meine ostdeutschen Blicke im Ersten Weltkrieg zu landen, gemischt mit Déjà-vus an die Wiedervereinigung.

Plötzlich wenden sich große und kleine Menschen um 180 Grad. Frank-Walter Steinmeier, der als Außenminister den Ukrainern großzügige Hilfe zukommen ließ und hochrangige Menschenrechtsexperten aus Oxford für das Minsker Abkommen engagierte, um die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine zu wahren, bedauert nun diese Arbeit.

Sebastian Klingbeil von der SPD meint sogar, es hätte eher gegen Russland aufgerüstet werden sollen – obwohl die Nato verglichen mit Russland ein Vielfaches für Rüstung ausgab. Und jeder Versuch, im heutigen Krieg zu differenzieren, wird moralisch diskreditiert, indem man von „brauner Stasidiktatur“, von „Jammerossis“ und „Putinfreunden“ redet.

Ich bin wohl wirklich verschwurbelt. Ich sehe – gerade Stefan Zweig lesend –, wie beim Ersten Weltkrieg überall dunkle Seiten, nachvollziehbares Handeln und gravierende Fehler. Russland ist nun in der Rolle der einstigen aggressiven Deutschen, aber auch heute erleben wir ein Aufhetzen der Staaten gegeneinander.

Mich ängstigt, wie viel mehr Emissionen wir durch die militärische Aufrüstung in Europa in die Luft pumpen und somit den Klimawandel verschlimmern. Ich kann die gegenwärtige Kritiklosigkeit angesichts der militärischen Expansion der Nato in Osteuropa nicht nachvollziehen.

Ich stimme zwar der Kritik an Putins Großmachtfantasien zu, die seine Nato-Kritik unglaubwürdig macht. Ich sehe das Unrecht seines Krieges und das Leid. Aber ich sehe gleichzeitig das von den Amerikanern dominierte Militärbündnis, das in den letzten drei Jahrzehnten sukzessive osteuropäische Staaten aufgenommen hat – während es eine Einbeziehung der Russen ablehnte. Dass die Nato die ukrainische Armee ausrüstete, darunter auch zum Teil rechtsradikale Einheiten wie „Asow“. Christa Wolf fragt in ihrer Kassandra-Erzählung nach dem Beginn des Vorkriegs und mahnt: „Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen.“

In den 80er-Jahren lief ich als Kind an der Hand der Eltern mit und verstand bestimmt nicht viel. Aber ich erinnere mich: Der oppositionellen Friedensbewegung im Osten ging es um die Abrüstung, ein Ende des Kalten Krieges; Forderungen, die sie mit der Friedensbewegung im Westen teilte. Die Militarisierung des Ostblocks wurde als ebenso bedrohlich angesehen wie die des Westblocks. Die Umweltzerstörung galt ebenfalls für beide Seiten. Und es ging um Demokratisierung und Reformen innerhalb der DDR, ohne sie abschaffen zu wollen.

Alles war zwei- oder vielseitig. Schlimmer noch, meine Eltern verlangten, dass ich trotz des Schulausfalls für die Demo meine Russisch-Hausaufgaben mache. Und eine solche Widersprüchlichkeit hat nichts mit rechten Parteien zu tun, die noch heute „die Wende vollenden“ wollen. Dieses Ende der Widersprüche am Tag der Wiedervereinigung resoniert vielmehr ungewollt mit den westdeutschen Grünen der nächsten Generation, Baerbock oder Toni Hofreiter, der schier nicht genug Waffen bekommen kann. Nach der Art: Wir haben recht, wir schauen nicht zurück.

Und so wundert es nicht, dass sich die einseitigen Wiedervereinigungsnarrative auch mit Blick auf die Ukraine finden. Die Maidan-Proteste 2014 werden oft als das 1989 der Ukrainer bezeichnet. Mitunter wird nun sogar der Krieg als späte Wiedervereinigung des Landes gehandelt. Endlich wären Ost- und Westukrainer in einer gemeinsamen Front gegen Putin vereint.

Sind die Ostukrainer wirklich vereint?

Natürlich hatten mich als Ostdeutsche die Maidan-Proteste 2014 gegen die Oligarchen-Garde berührt. Der Wille nach westlicher Ausrichtung, der Kampf um ukrainische Unabhängigkeit hatte einiges von 1989. Doch dann sah ich die Bandera-Poster. Mich irritierte, dass die neue ukrainische Regierung der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes ihre Sprache und Kultur verwehrte. Mittlerweile sollen Schulen nicht mehr von der Roten Armee als Helden erzählen, sondern von den Bandera-Einheiten – ohne deren Beteiligung an den Massenmorden an Juden oder Polen zu erwähnen.

Eine solche ideologische Wende ist wohl noch härter als das, was die Ostdeutschen nach 1989 erfuhren. Die darauffolgenden blutigen Kämpfe zwischen prorussischen Einheiten, Putins Truppen und ukrainischen Regierungstruppen ebenfalls. Jetzt, seit dem Krieg, sind die russischsprachigen Parteien verboten. Und trotz der furchtbaren russischen Gewalt sind vier Millionen Ostukrainer nach Russland geflüchtet, fast ebenso viele wie nach Europa. Sind die Ostukrainer wirklich vereint? Oder sind die jetzt auch verschwurbelt?

Stefan Zweig schrieb von der „Kriegstechnik“ der Medien, „den feindlichen Soldaten jeder denkbaren Grausamkeit zu beschuldigen“ und die eigene Seite unbehelligt zu lassen. Es gibt mittlerweile viele Einseitigkeiten und Auslassungen. Ich kann zwar verstehen, wie angesichts der alltäglichen Gewalt in der Ukraine oder angesichts der Zensur in Russland Parallelen mit dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden, der Vergleich Putin mit Hitler aufkommt. Nur verlangt dieser Vergleich den Kampf bis zu Putins Niederlage, auch wenn es Jahre dauert und in der Ukraine am Ende kein Stein mehr auf dem anderen liegt. Er blendet jede Gelegenheit aus, den Krieg vorher zu beenden – wie zum Beispiel im März 2022, als die Russen vielleicht bereit gewesen wären, sich wieder gänzlich hinter die alten Grenzen zurückzuziehen.

Die Hitler-Parallele, der Krieg bis zur bedingungslosen Kapitulation, kann zum Dritten Weltkrieg oder einer nuklearen Katastrophe führen – und zur Klimakatastrophe gleich mit. Hier gibt es keine zwei Seiten, keine Akzeptanz, dass die Dinge immer widersprüchlich sind. Und zeigte nicht schon Freud, wie die eigenen unterdrückten Widersprüche in der Wahrnehmung des anderen auftauchen und diesen dämonischer machen, als er ist?

Vielleicht sollte ich für diese Akzeptanz der Widersprüche wieder auf die Straße gehen. Die DDR war nicht einseitig schlecht, die Wiedervereinigung nicht einseitig gut, und der heutige Krieg ist es ebenso wenig. Die Widersprüche sind Verhandlungsmasse zwischen West und Ost, Europa, USA, Russland und Ukraine. Ich würde gern dafür demonstrieren, dass das Töten in der Ukraine endet. Für eine Rückbesinnung auf den Kampf gegen den Klimawandel, der sich solche Kriege nicht mehr leisten kann. Sprich, ich bin für eine widersprüchliche Version der Wiedervereinigung im weitesten Sinne des Wortes, für Verhandlungen zwischen Ost und West, und auch mit Russland – trotz all seinen dunklen Seiten, ebenso wie den unseren.