Zwei Sozialgerichte haben die Einstufung von Long Covid als psychische Erkrankung verworfen und Betroffenen die Tür zum Schwerbehindertenrecht geöffnet. Die Urteile könnten auch anderen postviral Erkrankten helfen – wobei unklar ist, ob sich die Versorgungsämter an die Rechtsprechung gebunden sehen.

Eine der Entscheidungen hat die 34-jährige Pia Lingen aus Teltow erstritten (Name von der Redaktion geändert). Das Urteil sprach der Präsident des Sozialgerichts Potsdam, Johannes Graf von Pfeil und Klein Ellguth, bereits im März dieses Jahres (Az. S 22 SB 47/23), inzwischen ist es rechtskräftig und liegt der Berliner Zeitung vor.

Pia Lingen war nach einer Corona-Erkrankung im November 2021 nicht mehr gesund geworden. Mehrere Ärzte diagnostizierten bei ihr die Multisystemerkrankung ME/CFS, die als schwerste Ausprägung von Long Covid gilt und mit schweren Erschöpfungszuständen, Konzentrationsmangel, Schlafstörungen und Reizempfindlichkeit einhergeht. Außerdem stellten sie eine eingeschränkte Lungenfunktion, Asthma bronchiale und das posturale Tachykardiesyndrom (POTS), eine schwere Kreislaufstörung, fest.

Anwalt sieht „Präzedenzwirkung“

Dennoch hatte das Brandenburgische Landesamt für Soziales und Versorgung (LASV) in Potsdam nur einen Behinderungsgrad (GdB) von 40 anerkannt. Das Sozialgericht verwarf diese Entscheidung und verpflichtete das Amt, einen GdB 50 anzuerkennen.

Der Unterschied ist für Betroffene immens – denn erst mit einem GdB 50 ist die Schwelle zur Schwerbehinderung überschritten, gleichbedeutend mit dem Anrecht auf verschiedene Nachteilsausgleiche. Dazu gehören Zusatzurlaub, erhöhte Steuerfreibeträge, ein früherer Renteneintritt und – was für Lingen besonders wichtig ist – ein deutlich strengerer Kündigungsschutz. „Ich falle immer wieder aus“, sagt sie. Darüber hinaus sei es ihr einfach um die „Anerkennung“ ihrer Erkrankung gegangen.

In seinem Urteil machte das Sozialgericht Ausführungen, die über den Einzelfall hinausreichen dürften und zahlreichen Betroffenen in Zukunft helfen könnten. In welchem Bereich der Behinderungsgrad festzustellen ist, orientiert sich an einer Tabelle der vom Bundessozialministerium erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung. Das LASV hatte die Post-Covid- und ME/CFS-Erkrankung darin als psychische Erkrankung verortet – in der Kategorie 3.7, die etwa Neurosen und Persönlichkeitsstörungen umfasst. Dies sei „insofern unzutreffend, als es sich um keine psychische Erkrankung handelt“, hielt das Sozialgericht in seinem Urteil fest.

Es berief sich dabei wesentlich auf die Einschätzung einer Neurologin der Charité. Die Beurteilung habe ausschließlich nach der Kategorie 18.4 zu erfolgen, in der ME/CFS und andere multisystemische Syndrome verortet sind. Weil diese sehr unterschiedlich ausfallen können, bestimmt die Verordnung keinen Rahmen für den Behinderungsgrad – entscheidend ist das Maß der Einschränkung im Einzelfall. Möglich ist deshalb auch eine höhere Anerkennung, im Fall von Lingen die Schwerbehinderung mit GdB 50. „Hierbei hat die Kammer auch berücksichtigt, dass das Krankheitsbild der Klägerin ondulierend (in Wellen; Anm. d. Red.) verläuft und ihre Leistungsfähigkeit wochenweise bis hin zur Pflegebedürftigkeit auf null reduziert ist, während sie an anderen Tagen, jedenfalls für Außenstehende, kaum wahrnehmbar ist“, heißt es in dem Urteil.

„Das hat große Präzedenzwirkung“, meint der Berliner Rechtsanwalt Friedrich Alexander Barthel, der Lingen vertritt. Normalerweise komme Gutachten – erstellt etwa vom Medizinischen Dienst – eine entscheidende Rolle zu. Doch wenn Gutachter Patienten ein- oder zweimal sehen, könnten sie bei dynamisch verlaufenden Krankheiten mit vielen Höhen und Tiefen kein realistisches Bild gewinnen. „Dafür hat das Sozialrecht keine vernünftige Begutachtungsstruktur“, erklärt Barthel.

Das Urteil stellte klar, dass eine „Gesamtschau“ entscheidend ist. Aus Sicht des Anwalts Barthel müssen demnach andere medizinische Unterlagen wie die Befunde der behandelnden Ärzte stärker, die vom Versorgungsamt beauftragte Begutachtung weniger stark berücksichtigt werden. „Das ist das Neue an dem Urteil – und ein Durchbruch, weil der Präsident eines Sozialgerichts anerkennt: Wir haben es mit Krankheiten zu tun, die ganz spezielle Eigenschaften haben.“

Derart weitreichend wollte das Sozialgericht Potsdam sein Urteil nicht deuten. Es handle sich um eine Einzelfallentscheidung, bei der abzuwarten bleibe, ob sich andere Gerichte anschließen werden, teilte es auf Anfrage der Berliner Zeitung mit. „Die Entscheidung stellt allerdings klar, dass die versorgungsrechtliche Bewertung einer Post-Covid- und ME/CFS-Erkrankung als psychosomatische Erkrankung unzutreffend ist“, betonte eine Gerichtssprecherin. Die Versorgungsämter müssten bei ihren Entscheidungen „alle klinisch belegten Einschränkungen“ würdigen.

Unterstützung kommt aus einem anderen Bundesland. In Rheinland-Pfalz fiel im Juni dieses Jahres ein Urteil, mit dem die Richter einen Bescheid des Versorgungsamtes Koblenz als unzulässig einstuften. Geklagt hatte ein 1969 geborener Mann, der seit Frühjahr 2021 an Post Covid erkrankt ist. Das Versorgungsamt hatte seinen Grad der Behinderung auf 30 eingestuft und einen Widerspruch gegen diese Entscheidung abgelehnt.

Wesentliches Argument des Amtes: Für eine Schwerbehinderung sei die gesundheitliche Störung nicht schwer genug, den Beschwerden fehle es an einem „organischen Korrelat“, weil etwa neurologische Befunde unauffällig gewesen seien.

Dem widersprach das Sozialgericht Speyer in seinem Urteil entschieden (S 12 SB 318/23). Bei der Post-Covid-Erkrankung des Klägers handele es sich „nicht um eine ursächlich psychische Erkrankung, wie zum Beispiel eine Depression oder psychosomatische Störung, sondern um eine organisch bedingte Folgeerkrankung der Covid-19-Infektion“, die auch psychische Auswirkungen habe, so das Gericht. Insgesamt sei das Ausmaß der Beschwerden mit einem Behinderungsgrad von 50 und damit als Schwerbehinderung zu bewerten – wie im Potsdamer Richterspruch verwies das Sozialgericht das Versorgungsamt auf die richtige Kategorie der Verordnung.

Problematisch aus Sicht der Betroffenen ist: Die Brandenburgerin Pia Lingen musste einen langen Rechtsstreit auf sich nehmen, bis ihre Schwerbehinderung anerkannt war. Der von den Richtern schließlich für unzulässig erklärte Bescheid des LASV stammte aus dem September 2022. Nach gescheitertem Widerspruch reichte Langen im Februar 2023 Klage ein – mehr als zwei weitere Jahre vergingen bis zu einer Entscheidung. „Das ist eine extrem starke Belastung“, sagt Lingen. „Das Leben hat sich um 180 Grad gedreht, ich hatte genug mit Arztterminen zu tun – und dann ist da ein Amt, vor dem ich mich ständig dafür rechtfertigen muss, dass ich krank bin.“

Amt leitet Nachprüfung ein

Welche Auswirkungen das Urteil haben wird, ist noch unklar. Eine Anfrage an das LASV in Potsdam beantwortete das übergeordnete Sozialministerium – ohne darauf einzugehen, weshalb das Amt Long Covid und ME/CFS als psychische Störung bewertet hatte – dem Gericht zufolge zu Unrecht. Das Ministerium bestätigte, dass nicht allein „kurze Momentaufnahmen in einer Begutachtungssituation“, sondern alle ärztlichen Unterlagen aus einem längeren Zeitraum herangezogen werden müssen. Ein Ministeriumssprecher versicherte außerdem, „dass keine Festlegungen bestanden oder bestehen, wonach Post Covid bzw. ME/CFS grundsätzlich als psychische/psychosomatische Erkrankung eingestuft wird“.

Lingens Anwalt Barthel vertritt noch weitere Long-Covid- und ME/CFS-Erkrankte und kündigte bereits an, sich auf das Urteil berufen zu wollen: „Ich habe Zweifel, dass das Landesamt freiwillig diese Rechtsposition übernimmt. Wahrscheinlich braucht es dazu noch weitere Niederlagen vor Gericht.“

Der bisherige Verlauf scheint ihm recht zu geben: Nur vier Monate nach dem Urteil wandte sich das Landesamt erneut an seine Mandantin – und forderte von Lingen umfangreiche Unterlagen zur „Nachprüfung“ der Schwerbehinderteneinstufung, und zwar „insbesondere“ auch hinsichtlich der „psychosomatischen Erkrankung“. So heißt es in einem Schreiben aus dem Juli, das die Berliner Zeitung einsehen konnte. Die Nachprüfung leitete das Amt sogar noch ein, bevor es Pia Lingen ihren Schwerbehindertenausweis zugestellt hatte.