Andy Warhol, das heißt Tomatensuppe, Marilyn Monroe und Velvet-Underground-Banane. Ja, aber. Andy Warhol heißt nämlich auch prächtige Popos und Penisse. Pop Art, ergänzt um Porn Art. Sogar so sehr, dass Sie vermutlich nach einem Besuch in der Neuen Nationalgalerie die Velvet-Underground-Banane nie mehr angucken können, ohne dabei nicht zumindest auch im Hinterkopf ans männliche Gemächt denken zu müssen. Das gehört zu den Risiken und Nebenwirkungen in der Neuen Nationalgalerie bei „Velvet Rage and Beauty“, der neuen riesigen Berliner Warhol-Schau.

Der Ausstellungstitel bezieht sich auf ein Buch aus dem Jahre 2005: „The Velvet Rage“ des klinischen Psychologen Alan Downs, der darin die Scham vieler schwuler Männer beschreibt, die dadurch entsteht, in einer diskriminierenden, dominant heteronormativen Welt aufzuwachsen. Auch Andy Warhol, der größte Kunst-Popstar des 20. Jahrhunderts, war nicht frei von dieser Scham. Er hat selbst viel dafür getan, als asexuelles Alien zu gelten. Tief im popkulturellen Gedächtnis verankert ist auch Andy Warhols Aussage aus seinem Artnews-Interview von 1968: „Ich will eine Maschine sein.“

Erst 2008 wurde die Original-Tonaufnahme des Interviews öffentlich. Spektakulär: Warhols Satz „Ich finde, das gesamte Interview über mich sollte nur von Homosexualität handeln“ wurde für die Print-Fassung gestrichen. Homosexualität war illegal. Sie ist es in den USA insgesamt erst seit 2003 nicht mehr. Warhol starb 1987, mitten in der Aids-Krise. Schwulsein galt als schmuddelig und todbringend.

Die vom Nationalgalerie-Direktor Klaus Biesenbach gemeinsam mit Lisa Botti kuratierte Schau hebt unser altes Warhol-Image aus den Angeln. Mit mehr als 300 Arbeiten: Gemälde, Drucke, Zeichnungen, Fotografien, Polaroids, Filme und Collagen. Vom Namen, vom Thema, von der Fülle und der Relevanz der Schau her, kommt man nicht umhin, von einem Berliner Blockbuster zu sprechen. Mit „nur“ 14 Werken aus dem eigenen Bestand der Nationalgalerie und vor allem vielen Leihgaben, die über den Atlantik aus den USA nach Berlin geholt wurden.

Penisse, Popos, aber Kunst

Warhols Schwulsein ist schon lange kein Geheimnis mehr. Auch Biografien haben das Thema nach Andy Warhols Tod aufgegriffen. In Warhol-Ausstellungen wurden dem Thema Homoerotik vereinzelt Kapitel gewidmet. Auch in Andy Warhols 1989 posthum erschienenen Tagebüchern, die er tagtäglich der befreundeten Journalistin Pat Hackett fernmündlich diktiert hat, erfahren wir allerlei Intimes – wie dann auch in der darauf basierenden, sehr sehenswerten Netflix-Doku-Serie „The Andy Warhol Diaries“.

Doch dass eine Warhol-Ausstellung das Sujet Queerness so hemmungslos in den Fokus rückt, ohne Scheu vor dem Sexuell-Expliziten – das gab es in dieser Form bisher nicht. Freilich auch nicht in den früheren großangelegten Warhol-Schauen der Neuen Nationalgalerie 1969 und 2003, wo (wie es eben üblich war) das Thema unter den Teppich gekehrt wurde. Wir dachten, wir kennen Warhol. Aber nun entdecken wir ihn noch mal ganz anders.

Zu sagen, dass die Nationalgalerie nun Warhol-Pornos auspackt, würde der Ausstellung trotz allen Penissen und Popos, allem Oral- und Analsex aber nicht gerecht werden: Viele der Zeichnungen junger schöner Männer (nicht nur die kostbar mit Blattgold garnierten, sondern sogar die mit billigem schwarzem Kugelschreiber ausgeführten), darunter dem Schriftsteller-Weltstar Truman Capote, sind von einer solchen Hingabe und Zärtlichkeit, dass man die Schwärmerei, die Verknalltheit im Strich spürt. Wie Warhol den Fingern und den Lippen nachspürt! So sehr, dass man sie zu schmecken meint.

Kein Wunder, Warhol hat sehr früh geübt: Noch auf der Highschool in seiner Heimatstadt Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania hat der Sohn slowakischer Einwanderer, Jahrgang 1928, seine Mitschüler schmeichelhaft gezeichnet. Am liebsten die sportlichsten, die ihn, „den Weichling“, „die Schwuchtel“, nur aus diesem Grunde vor Prügel schonten und schützten.

Liebestrunkene Zeichnungen

Nur ein einziges Mal hat Warhol zeitlebens eine Galerieausstellung mit solchen liebestrunkenen Männerzeichnungen gezeigt. Da war er Anfang 20. Die Kritik war vernichtend. Auch schwule Pop-Art-Kollegen wie Robert Rauschenberg (der selbst ein Doppelleben führte) schämten sich öffentlich für solch schamloses Schwulsein. Es muss für Warhol wie ein Schlag in die Magengrube und auch in sein „Maschinen“-Herz gewesen sein.

Warhol, der ehrgeizig, gierig nach Ruhm war und als Illustrator im New York der 1950er steinreich wurde, nahm, auch auf Anregung seines Agenten, Abstand von dem, was ihm allzu nah war. Seine Boyfriends (Jed Johnson, Jon Gould etc.) hielt er geheim, aber wir sehen sie verewigt in der Ausstellung, wie auch den von Warhol heißgeliebten Künstler-Buddy Jean-Michel Basquiat.

Trotz Auftraggeber mit gigantischem Portemonnaie lehnte Warhol mehrmals den Vorschlag ab, das Who’s who der New Yorker Queer-Szene nach der Zeit der Stonewall-Unruhen von 1969 zu porträtieren. Letztlich hat er sich aber umstimmen lassen: Basierend auf 500 Polaroids, sind mehr als 300 Gemälde entstanden – die Serie „Ladies and Gentlemen“, samt Transaktivistin Marsha P. Johnson – viel mehr als ursprünglich bestellt. Auch hiervon ist einiges im Mies-van-der-Rohe-Bau zu sehen. Eindrucksvoll auch die Polaroids, in denen sich Warhol mit Perücken und knallrotem Lippenstift zu einem Spektrum genderfluider Dragqueens in Szene gesetzt hat.

Apropos Polaroids: Sofortbilder waren nicht bloß ästhetisch angesagt, nein, Warhol konnte so auch das Risiko umschiffen, von Fotolaboranten angezeigt zu werden. Wie gesagt: Homosexualität war illegal. In den USA, wo Warhol aufwuchs, konnte man potenziell schon eines pinken Anzugs wegen (den er sich von seinem ersten selbstverdienten Geld gönnte) zur „Konversionstherapie“ mit Elektroschocks verurteilt werden – um „wieder hetero“ zu werden. All dies muss man mitdenken bei „Velvet Rage and Beauty“.

Was lernen wir Neues über Warhol? Er war, unter der Campbell’s-Camouflage, noch vielschichtiger, als wir schon ahnten. Aber das ist nur eine Seite der Frage. Die andere lautet: Was lernen wir über uns und unsere Welt, die den Pop-Art-Meister liebte, aber seine Liebe, seine Lieben, seinen Sex und seine Sinnlichkeit aus der Kunstgeschichte ausradieren wollte?


Andy Warhol: Velvet Rage and Beauty. Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Fr–Mi 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr. Bis 6.10.