Claudia Roth hat neulich ein ostdeutsches Bücherregal besichtigt und festgestellt: Da stehen ganz andere Bücher drin als im Westen. Das erzählte sie vor ein paar Tagen auf der Bühne des Bundeskanzleramts bei der Veranstaltung „Kultur in Ost und West – ein anderer Blick“.

Es war ihre Antwort auf die Frage, wie man Brücken bauen kann zwischen Ost und West. Ich saß im Publikum und fühlte mich, als würde ich gleich von der Einheitsbrücke fallen.

Eine Kulturstaatsministerin, die mehr als drei Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR begreift, dass es dort andere Bücher gab, was bei ihr aber gleich so klingt, als hätten wir in einem literarischen Bunker gelebt, aus dem sie uns zusammen mit Helmut Kohl befreit hat. Mit dem Begriff „Kultur in der DDR“ verbindet sie Repressionen, weil sie als Bandmanagerin nicht einreisen durfte. Außerdem fallen ihr drei ausgebürgerte Künstlerinnen ein. Und die Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Greifswald – ein Beispiel für Kunst und Kultur im Osten heute. „Was da alles stattfindet!“

Kein Wort zu Christa Wolf oder Christoph Hein, Bands wie Silly oder Pankow. Keine Erinnerung an all die Künstler, die nach der deutschen Einheit ihre Arbeit verloren und die Verlage und Theater, die abgewickelt oder von Westdeutschen übernommen wurden. Damals war alles schlecht, heute ist alles gut, so klingt es bei Roth. Und damit nicht wieder alles schlecht wird, müssen wir die Demokratie verteidigen, „gegen die Feinde von Rechtsaußen“. Auch das sagte Roth, mehrere Male.

Der Ostbeauftragte Carsten Schneider wandte ein, Ähnlichkeiten habe es schon gegeben bei den Büchern, die in Ost und West gelesen wurden. „Es wurde ja auch geschmuggelt.“ Dann las Anne Rabe aus ihrem Roman „Die Möglichkeit von Glück“, in dem es um seelische Folgen der SED-Diktatur geht, was gut in Claudia Roths Weltbild passt. Das Buch wurde im Herbst für den Deutschen Buchpreis auf die Shortlist gesetzt, von einer Jury, die fast nur aus Westdeutschen besteht.

Die Moderatorin bedankte sich für den „wertschätzenden“ Applaus. Mein Sitznachbar, ein ostdeutscher Schriftsteller, beschloss, das Klatschen von nun an zu lassen. Aber dann war Grit Lemke, Autorin des Romanes „Die Kinder von Hoy“, an der Reihe. Sie sprach vom Trauma der Nachwendezeit, warf dem Westen vor, den Osten kolonialisiert zu haben und der Staatsministerin, Ostdeutsche zu wenig zu fördern. Als Beispiel nannte sie das Dokfilm-Festival Leipzig, das seit 20 Jahren keine ostdeutsche Intendanz mehr habe. „Die Förderung aus Ihrem Haus, Frau Roth, ist eine für Westdeutsche“, sagte Grit Lemke. Für einen Moment war es sehr ruhig im Kanzleramt. Dann gab es Applaus. Auch von meinem Nachbarn. Und Widerspruch von Martin Sabrow, einem westdeutschen Historiker, der erklärte, von Kolonialisierung könne keine Rede sein, er sprach von „Selbstvictimisierung“, Opferhaltung.

Lemke konterte, der Opfervorwurf sei ein Totschlagargument. Sie benutze den Kolonialisierungsbegriff ja gerade, um aus der Opferhaltung herauszukommen. Auf einmal ging es richtig zur Sache im Kanzleramt. Die Einheitsbrücke wirkte so, als bekäme sie endlich ein neues Fundament.

Zu Hause sah ich mir die Bücher an, die ich von meinen Eltern und Schwiegereltern geerbt hatte. DDR-Ausgaben von: Maxim Gorki und Hermann Kant, aber auch Heinrich Kleist, Hermann Hesse, Oscar Wilde, John Updike, Günter Grass, Heinrich Böll. Ein ostdeutsches Bücherregal, Frau Roth! Keine Schmuggelware, Herr Schneider!