Ich wollte wissen, wie in Moskau über die Ukraine, über den Westen gedacht und gesprochen wird. Wie Sanktionen vor Ort wirken und welchen Eindruck Drohungen westlicher Politiker machen.

Um mit Leuten vor Ort ins Gespräch zu kommen, hatte ich Freunde gebeten, Termine im Privaten, in der Wirtschaft, in der Kunst, bei Religionsvertretern und auch in der Politik sowie bei Medien anzufragen. 20 Termine kamen für diese Woche zusammen.

Selten sind meine Erwartungen in den letzten Jahren so übertroffen worden, selten in meinem Leben waren Eindrücke so eindringlich gewesen. Denn ich traf niemanden, der dem Krieg in der Ukraine gegenüber positiv eingestellt war, gleichzeitig fand ich niemanden, der die Positionen des Westens guthieß.

Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung Russlands im Westen, in den deutschen Medien, und dem, was vor Ort vorzufinden ist, könnte kaum größer sein. Russland und Europa haben sich auf eine beunruhigende, gefährliche Weise voneinander entfernt.

Über Istanbul erreichte ich Moskau. Am Nachmittag des 9. Mai landete ich in einer Stadt, die den 80. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg feierte.

Die Stadt war ausstaffiert mit Losungen. „80 let, pobeda!“ (80 Jahre, Sieg!) hing buchstäblich an jeder Ecke, in jedem Schaufenster. Es herrschte Volksfeststimmung. Autokorsos, fröhlich feiernde Jugendliche, das allgegenwärtige Georgsband, in der Innenstadt große Lichtinstallationen mit Motiven aus dem Krieg gegen die Deutschen. Gruppen, die begleitet von Laienmusikern russische Lieder anstimmten. Passanten blieben stehen, sangen in größeren Gruppen. Eine schöne und doch auch beklemmende Atmosphäre.

Zu keinem Zeitpunkt meines Besuches hatte ich den Eindruck, dass Moskau wegen der Sanktionen in Schwierigkeiten stecken würde. Die Stadt wirkte aufgeräumt und funktionstüchtig, wie verblüffend gut, sollte sich mehrmals während meines Besuches zeigen: In Moskau fahren die Busse elektrisch, die Metro fährt im Minutentakt. Die Prozesse der Verwaltung sind auf Basis einer Steueridentifikations-, der Mobilfunknummer und eines MIR-Bankaccounts für jeden russischen und ausländischen Bürger mit Aufenthaltsgenehmigung über eine App erreichbar. Um den Zahlungsschwierigkeiten vor Ort aus dem Weg zu gehen, konnte ich mich innerhalb von drei Stunden als Ausländer im russischen Verwaltungssystem und im Zahlungssystem MIR anmelden. Die Berliner Verwaltung sollte sich Organisation und digitale Lösungen der Moskauer oder der russischen Verwaltung genau anschauen: Für deutsche Bürger und Steuerzahler ist dieser Grad der Modernität und auch der Kundenfreundlichkeit, wie ich sie dort erlebt habe, in weiter Ferne.

In meinem Hotel konnte ich problemlos deutsche Sender empfangen. Mobil sind alle westlichen Webseiten erreichbar, über staatliche Netzwerkprovider waren allerdings einzelne Titel wie etwa Publikationen des Axel Springer Verlages nicht verfügbar. Ebenso sind ausgewählte technische Plattformen wie etwa ChatGPT ähnlich wie in China nicht erreichbar. Der Einsatz von VPN-Tools funktioniert problemlos, sodass der weltweite Zugang zu Informationen über diesen Umweg möglich bleibt. Mein deutscher T-Mobile- und mein britischer Vodafone-Account funktionierten uneingeschränkt. Auch der App-Store von Apple aus den USA unterliegt hier keinen Einschränkungen. Alle notwendigen russischen Verwaltungs- und Mobilitätsapps werden angeboten. Wenn auf sanktionierte Infrastrukturen, wie beispielsweise von Banken, zugegriffen werden muss, gibt es bequeme Ausweichlösungen. Der Wechsel zwischen westlichen und östlichen Zahlungsverkehrssystemen wird, um die westlichen Sanktionsbemühungen zu umgehen, unkompliziert durch Kryptowährung bewerkstelligt.

So viel zur Wirksamkeit der Sanktionen. Im digitalen Alltag spielen sie keine Rolle, und hier vor Ort wirken die Drohgebärden des Westens denn eben nur als solche.

Vielleicht auch deswegen lächeln meine Gesprächspartner über die jüngsten Drohungen der vier westlichen Staatschefs Starmer, Macron, Tusk und Merz. Dieses Lächeln sollte sich in dieser Woche mehrfach wiederholen.

Wovor hat Deutschland denn Angst?

Das Thema beim Essen mit Journalisten am ersten Abend war dann auch die Sanktions-, die Medien- und die Erinnerungspolitik. Wovor Deutschland denn nur Angst habe, wenn russische Medien in Deutschland verboten werden und das Gedenken an den Krieg und seiner Opfer auf russischen Friedhöfen in Deutschland erschwert wird, wollten sie von mir wissen. Der Westen sei doch so stark, die deutsche Demokratie der russischen Föderation so überlegen, warum nur seien diese Unsouveränitäten notwendig?

Ich blieb die Antwort schuldig, gab jedoch zu bedenken, dass auch in Russland Sender verboten wurden und es Einschränkungen für unter dem Verdacht ausländischer Einflussnahme stehende Einrichtungen gibt. Die Diskussion versandete trotz oder gerade wegen des reichlich bayerischen Biers zu Blini und Kaviar.

Überrascht hat mich dennoch die Offenheit in den Gesprächen und auch das grundsätzliche Interesse an einem Austausch. Jeder meiner Gesprächspartner, nicht nur an diesem Abend, war bereit, sich zu äußern. Auf höchsten wie auf unteren Ebenen, in privatem wie offiziellem Rahmen wurde frei gesprochen, kontroverse Perspektiven wurden respektvoll ausgetauscht.

Es herrscht viel Unverständnis zu den Positionen des Westens, gleichzeitig das Gefühl eines grundsätzlichen Missverständnisses gegenüber dem Osten und den spezifischen Interessen, auch resultierend aus den Erfahrungen der Geschichte.

Jede Organisation und jeder Gesprächspartner nahm sich Zeit für einen Austausch, der keine Themen aussparte. Jeder Termin war von Respekt und Professionalität geprägt, selbst dort, wo deutlich war, dass man grundverschiedene Positionen vertritt. So auch in Terminen auf Leitungsebene im russischen Außenministerium oder in der Duma mit dem Vorsitzenden Wjatscheslaw Wolodin.

Vielmehr war es so, dass meine Gesprächspartner die Gelegenheit nutzten zu ergründen, was im Westen allgemein und speziell in Deutschland passiert. Für meine Gesprächspartner aus Wirtschaft, Bildung und aus der Politik erschließt sich das Agieren deutscher und europäischer Politiker nicht. Insbesondere gibt es aus russischer Perspektive kein Verständnis dafür, dass Interessenkonflikte zu Lasten der deutschen und westeuropäischen Bevölkerungen ausgetragen werden, wenn es doch für alle Seite bessere Lösungen geben könnte, sofern man sich aufeinander zubewegen würde. Zumal Deutschland keine Rohstoffe besitzt und daher politische Fehlentscheidungen, die negative wirtschaftliche Folgen provozieren, kaum kompensieren kann. Warum macht ihr das, werde ich immer wieder gefragt. Ich habe keine Antwort.

Mit gleichem Unverständnis und mit Empörung steht man den Raubzügen deutscher Behörden auf russische Vermögen in Deutschland gegenüber und vergleicht das Vorgehen mit dem Raub jüdischen Vermögens vor und während des Zweiten Weltkrieges. Über einen der prominenten Fälle, die Vorwürfe gegenüber Alischer Usmanow, berichtet die Berliner Zeitung. Es wird klar, dass es viele Verletzungen gab und gibt, die noch Jahrzehnte nachwirken werden.

Aus der russischen Perspektive scheint sich der Eindruck der demonstrativen Abstrafung Russlands insbesondere durch die deutsche Politik zu verfestigen. Das helfe, von der eigenen historischen Schuld abzulenken. Ich höre auch, dass es in Gesprächen mit deutschen Diplomaten und Wirtschaftsvertretern offizielle und inoffizielle Teile gab. So wurden vorbereitete Statements mit harten Formulierungen verlesen, doch in persönlichen Gesprächen hätten die deutschen Stellen eingeräumt, nicht anders agieren zu können, da sonst Karriere und soziale Stellung in Deutschland unter Druck gerieten.

Es ist schwierig, Moral und Ethik mit wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen zu versöhnen. Das Ringen darum scheint hier das verbindende Element.

Drei meiner 20 Gespräche beschreiben die Situation vor Ort exemplarisch. Eine private Situation, ein Gespräch mit einem der erfolgreichsten Unternehmer Russlands und Termine mit den religiösen Führern der vier großen Religionen. Beginnen wir mit der privaten Situation:

Ein Querschnitt der russischsprachigen Welt. Drei Frauen: aus Russland, aus Belarus und aus der Ukraine. Eine ist Unternehmerin, eine Physikerin und eine Geisteswissenschaftlerin.

Alle drei haben im Westen gelebt, gearbeitet, waren wirtschaftlich erfolgreich. Doch fühlten sie sich vom Westen ausgestoßen, diskreditiert, auch betrogen. Ausgestoßen, weil ihre Visa nicht verlängert wurden; diskreditiert, weil sie sich nicht oft genug eindeutig gegen Russland positioniert hatten; betrogen, denn ihnen wurde der Zugriff auf ihre Ersparnisse entzogen. Der Raubzug deutscher Verwaltungen trifft auch die Mittelklasse, nicht nur Superreiche. Keine der drei Frauen wollte diesen Krieg in der Ukraine. Keine will, dass er weitergeführt wird. Doch jede von ihnen ist überzeugt, dass sich Russland gegen einen übergriffigen, kulturell hegemonial auftretenden Westen verteidigen muss. Notfalls mit Waffen. Sie sehen den Krieg nicht, wie wir im Westen, als Angriff Russlands, sondern als unvermeidliche Verteidigung russischer Interessen.

It’s the economy, stupid!

Die Antworten auf meine Frage, was von den aktuellen Angeboten aus Kiew und dem Westen zu halten sei: Die Drohungen von Kanzler Merz über neuerliche Verschärfungen der Sanktionen nahm man eher heiter auf. Deutlich irritiert zeigten sich meine Gesprächspartnerinnen über die Ahnungslosigkeit des deutschen Spitzenpersonals über Zusammenhänge neuerer geopolitischer Entwicklungen, fast erbost waren sie über die politische Instinktlosigkeit gegenüber einer gemeinsamen Geschichte, auch gegenüber der realen, modernen Verfasstheit der russischen Gesellschaft. Die russische Wirtschaft ist in den letzten beiden Jahren um 4,1 bzw. 4,3 Prozent gewachsen. Deutschland dagegen stagniert. Das Bruttosozialprodukt der Brics-Staaten übersteigt mittlerweile das des Westens deutlich. Deutschland ist im GDP-Ranking auf Platz 6 noch hinter Japan abgerutscht. Russland hat sich auf Platz 4 vorgearbeitet.Die Runde erklärte mir, dass die seit 2012 bestehenden, mittlerweile auf 28.000 Verfügungen angewachsenen Sanktionen wie ein heilsamer Modernisierungsschock für Russland gewirkt hätten. Die russische Wirtschaft wachse nicht nur stark, weil Profit-Margen westlicher Anbieter in die russische Volkswirtschaft umgelenkt werden. Es gäbe auch einen Mobilisierungseffekt in der Bevölkerung. Zudem, wann immer man etwas aus dem Westen benötige, fände sich ein Weg. Das war in der Vergangenheit so und es würde immer so sein. Die Diskussion zu diesem Punkt endetet mit dem Hinweis auf den ein oder anderen US-Amerikaner in meinem Hotel und darauf, dass die ersten Elektrizitätswerke nach der Revolution von den Amerikanern gebaut wurden. Obwohl britische, französische und deutsche Truppen zu dieser Zeit im russischen Bürgerkrieg gegen die bolschewistische Regierung kämpften. It’s the economy, stupid! Da musste dann auch ich lachen.

Die Heiterkeit wich bei einem anderen Thema: Wie es mit dem Krieg gegen die Ukraine weitergehen solle und was von dem Angebot der 30-tägigen Waffenruhe zu halten sei. Die Antwort war so einfach wie einleuchtend: Man solle sich zusammensetzen und die Punkte klären, die zu klären sind, damit das Sterben in der Ukraine, aber auch in den eigenen Truppen aufhört. Der Westen sei 2022 vom Tisch aufgestanden und solle zurückkehren. Es sei ein Bruderkrieg, der aufhören müsse. Russland habe bewiesen, dass es Positionen gibt, die es mit Gewalt zu verteidigen bereit ist. Jetzt müsse Russland beweisen, dass es in der Lage ist, Lösungen, die länger als zehn Jahre Bestand hätten, aufzuzeigen. Dies sei allein die Aufgabe der Politik, sie müsse liefern. Wenn sie dazu nicht in der Lage sei, werde das Sterben in den kommenden Jahren weitergehen.

Es interessiere sie nicht, wer wann, wo und wie angefangen habe. Da hat jede Seite ihre richtige, ihre traurige, auch ihre jeweils in sich schlüssige Perspektive. Doch dies wäre Vergangenheit und helfe niemandem heute und morgen, insbesondere nicht den Menschen in der Ukraine und den Soldaten an der Front.

Am Tisch gab es spürbar keine Einigkeit über den geostrategischen Anspruch Russlands und wie die kulturellen Unterschiede in der russischen Welt in der Zukunft zu berücksichtigen seien. Das wurde zwar nicht offen diskutiert, klang jedoch trotz der höflichen Zurückhaltung gegenüber der russischen Gastgeberin deutlich durch.

Vielleicht ist dies die größere innerrussische Herausforderung: zu akzeptieren, dass die imperialen Zeiten nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten zu Ende gehen.

Ein weiterer Termin fand vor den Toren Moskaus statt. Einer der erfolgreichsten, wenn nicht sogar der erfolgreichste Unternehmer Russlands, Wiktor Wekselberg, nahm sich die Zeit. An einem von ihm finanzierten Campus, gebaut von Herzog & de Meuron, Stars der Architekturszene, die beispielsweise in Hamburg die Elbphilharmonie bauten.

Das Curriculum dieses High Tech Campus in Moskau wurde mit dem MIT aus Boston entwickelt und von der Unesco ausgezeichnet. Große Teile seines Vermögens widmet Wekselberg der Bildung, der Kultur, trotzdem wurden er, seine Familie und seine Firmen sanktioniert.

Wir sprachen über die Wirkung der Sanktionen für ihn persönlich, aber wichtiger noch für den Lehrkörper und am wichtigsten für die Studenten. Darüber, dass sich alle westlichen Partner sofort zurückzogen. Über die persönliche Enttäuschung ob der Bereitschaft enger Geschäftspartner, Sippenhaft als politisches Druckmittel zu akzeptieren.

Es war ein deprimierender Termin, denn er zeigte den massiven Fallout des politischen Versagens für folgende junge Generationen, wenn Möglichkeiten der Bildung selbst auf diesem hohen Niveau eingeschränkt werden, weil ein Interessenausgleich auf politischer Ebene nicht gelingt.

Das allgegenwärtige Sterben in der Ukraine ist unmittelbare Folge, mittelbare Folgen sind die Jahrzehnte wirkenden länderübergreifenden Einschränkungen für kommende Generationen. Wir waren uns einig, dass dies inakzeptabel sei und es besonderer Anstrengungen bedürfe, diese neu errichteten Mauern zu überwinden. Es werden sich Wege dafür finden, dass junge Menschen ihre Bildungschancen wahrnehmen und soziale wie auch nationale Grenzen überwinden. Wekselbergs Projekt, das so furios und ambitioniert startete, wird kaum scheitern, doch es wird wohl mehr Zeit kosten und eine größere als jede andere seiner unternehmerischen Herausforderung werden.

Ähnlich ist die Stimmung während eines Treffens mit religiösen Würdenträgern. Die jüdische Gemeinde Moskaus ist lebendig und wächst. 35 Synagogen werden von Rabbi Lazar angeleitet. Die Sicherheitsstandards sind im Vergleich zu deutschen Verhältnissen gering, weil sich die Situation für jüdisches Leben seit den Jelzin-Jahren deutlich verbessert hat. Die deutschen Probleme eines sich verschärfenden Antisemitismus gibt es in dieser Form in Russland nicht.

Auf Vermittlung von David Rozenson, CEO von Bait Avi Chai aus Jerusalem, öffneten sich mir die Türen zu großen jüdischen Institutionen, und wichtiger noch: Türen zu christlichen Würdenträgern, Muslimen und Orthodoxen.

Ausgewogenheit, Respekt, Zugewandtheit zeigten sich im Gespräch mit Rawil Gainutdin, Vorsitzender des Rates der Muftis in Russland, damit spiritueller Führer von 20 Millionen russischen Moslems.

In einer in Deutschland kaum vorstellbaren Direktheit wird mir deutlich gemacht, dass das übergeordnete muslimische Ziel ein friedliches Zusammenleben ist, dass Intoleranz, Extremismus oder gar Terrorismus weder gewünscht noch toleriert würden. Dass man zwar getrennte Wege im Glauben gehe, doch dasselbe Ziel verfolge. Dass man sich wechselseitig akzeptiere und unterstütze auf dem Weg zu einer friedlichen Welt.

Die Argumente wiederholen sich am nächsten Tag in der Residenz des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche mit Metropolit Bischof Antonij. Auch hier ist die Botschaft klar. Man arbeite an einer friedlichen Welt. Dass dies keine Schutzbehauptungen sind, zeigt sich im persönlich vertrauten Umgang mit dem ebenfalls anwesenden Rabbi Lazar. Ohne seine Referenz wäre mir der Zugang zu diesen Kreisen unmöglich gewesen. So ergibt sich die Gelegenheit, über wechselseitige Enttäuschungen in Ost und West zu sprechen und darüber, welche Erwartungen es für die Zukunft gibt. Man berichtet von abgelehnten Visa, selbst für Praktikanten, weil diese für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angeblich eine Gefahr darstellen würden. Drastisch sind die als respektlos empfundenen Worte von Bundespräsident Steinmeier meinen Gesprächspartnern in Erinnerung geblieben: Steinmeier hatte die russische Delegation vor allen Vertretern eines Weltkongresses christlicher Kirchen 2022 in Karlsruhe bloßgestellt, indem er sie für den Angriffskrieg persönlich verantwortlich zu machen versuchte.

Nach dieser Reise stelle ich mir die Frage, wie es zwischen Russland und Deutschland, zwischen dem Osten und dem Westen weitergehen kann.

Konsens in allen Gesprächen war der Wunsch nach Kooperation. Der Osten ist jedoch nicht bereit, auf Vorstellungen des Westens einzugehen und hält sich für stark genug, weniger Rücksicht auf den Westen nehmen zu müssen. Die Forderungen des Westens werden als unrealistisch angesehen. Die Zeiten haben sich geändert, der Westen wird nicht mehr gebraucht.

Russland hat die Ukraine 2022 unrechtmäßig angegriffen und war bislang nicht in der Lage, die Konfrontation für sich zu entscheiden. Heute, drei Jahre später, ist auch der Westen nicht in der Lage, die Situation gegenüber Russland für sich zu entscheiden.

Das anzuerkennen, scheint der aktuellen Politikergeneration in Ost und West gleichermaßen schwerzufallen. Meine Reise nach Moskau hat jedoch gezeigt, dass außerhalb der Politik, auf der Straße genauso wie in den Boardrooms, die Bereitschaft existiert, Dinge zu verändern. Und dass die russische Politik ihre Türen für den Westen offen hält.

Wenn die Politik ihren Aufgaben allerdings nicht gerecht wird, dann werden Künstler, Wissenschaftler und Unternehmer ihre eigenen Möglichkeiten finden und neue Wege gehen. Das setzt Mut voraus. Doch die Perspektive einer friedlichen Kooperation scheint allemal attraktiver als eine weitere brutale Konfrontation.

Die EU war nach einem großen Krieg Zielbild für ein prosperierendes, friedliches Miteinander ehemals verfeindeter Länder. In den Gesprächen in Moskau hatte ich das Gefühl, dass dies für ganz Europa gelingen könnte, ohne dass es dafür eines neuen großen Krieges bedarf.


Holger Friedrich ist Verleger der Berliner Zeitung.