In den vergangenen 20 Jahren hat sich die westliche Welt immer weiter in einen dauerhaften Krisen- und Ausnahmezustand hineinbewegt, der sich inzwischen, wenn man der Rhetorik einiger Spitzenpolitiker folgt, zu einem regelrechten Kriegszustand ausgeweitet hat. Es begann mit dem „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 und den späteren Anschlägen in Europa, es folgten die Antworten auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine und schließlich auf den Gazakrieg, den Deutschland und die USA mit massiven Waffenlieferungen unterstützen. Auch als Antwort auf die Pandemie wurde von vielen westlichen Staatschefs ein Kriegszustand ausgerufen, Emmanuel Macron etwa verkündete: „Wir befinden uns im Krieg. Und das erfordert unsere allgemeine Mobilmachung.“

Im Namen der Bekämpfung der jeweiligen Feinde wurde eine massive Aufrüstung von Militär, Polizei und Überwachungstechniken in Gang gesetzt, grundlegende Bürgerrechte wurden eingeschränkt. Dringende Anliegen wie soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz wurden und werden immer wieder mit Verweis auf den aktuellen Ausnahmezustand und die übermächtige Bedrohung durch den jeweiligen Feind an den Rand gedrängt. Inzwischen hören wir von deutschen Spitzenpolitikern zunehmend militaristische Töne, die an die Spätzeit des deutschen Kaiserreichs erinnern – Stichwort „Kriegstüchtigkeit“. In der Kriegslogik verengt sich der Blick auf den äußeren Feind, die Gesellschaft wird aufgefordert, zu seiner Bekämpfung zusammenzurücken. Wer widerspricht, läuft Gefahr, zu einem Verbündeten des Feindes erklärt zu werden.

Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklungen für eine Demokratie äußerst gefährlich sind. Auch angesichts der globalen Herausforderungen, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten durch geopolitische Verschiebungen und zunehmende Umweltkrisen wahrscheinlich noch zunehmen werden, ist es höchste Zeit zu fragen, ob die Kriegslogik tatsächlich die richtige oder gar einzig mögliche Antwort auf diese Entwicklungen ist. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass vom Zweiten Weltkrieg bis heute weder die USA noch ein Land der EU militärisch angegriffen wurden. Der Anschlag vom 11. September 2001 war ein schweres Verbrechen, aber – wie die Bezeichnung Terroranschlag bereits sagt – per definitionem kein militärischer Angriff.

Andersherum sieht die Sache anders aus: Allein die USA waren seit 1950 in etwa 200 militärische Interventionen rund um den Globus involviert, die Dutzende von Ländern in jahrzehntelanges Chaos stürzten. Hinzu kamen mehr als 70 überwiegend verdeckte Regime-Change-Operationen – oft gegen demokratisch gewählte Regierungen. Auch Großbritannien, Frankreich, Deutschland und andere westliche Länder waren an zahlreichen Militäreinsätzen im Ausland beteiligt, die der Öffentlichkeit meist als hehre Missionen zur Verteidigung der Menschenrechte verkauft wurden. Doch die reale Bilanz sieht anders aus.

Allein der Krieg in Afghanistan, das Herzstück des „Kriegs gegen den Terror“, hat 176.000 Menschenleben gekostet, davon 98 Prozent Afghanen. Die Anschläge vom 11. September, auf den dieser Krieg die Antwort war, hatten 2996 Menschenleben gefordert – ein Sechzigstel der Opfer des folgenden Krieges. Während vor dem Krieg 80 Prozent der Afghanen in Armut lebten, waren es nach Abzug der USA und ihrer Verbündeten 97 Prozent. Der Terrorismus ist infolge dieses und anderer „Kriege gegen der Terror“ weltweit geradezu explodiert. Ob in Afghanistan, Irak oder Libyen: Wo immer die westlichen Missionen aktiv waren, haben sie failed states und eine Spur der Verwüstung hinterlassen.

Als Folge dieser Interventionen kam der Terror schließlich nach Europa. Auf die Anschläge in Madrid, London, Paris und anderswo reagierten westliche Gesellschaften keineswegs mit Selbstreflexion und einer Änderung ihrer Politik gegenüber arabischen Staaten, sondern mit mehr Militäreinsätzen nach außen sowie Massenüberwachung, Militarisierung der Polizei und Einschränkungen von Bürgerrechten im Inneren. Und das, obwohl selbst in den Jahren der opferreichsten Anschläge in Europa mehr als 100-mal so viele Menschen durch multiresistente Krankenhauskeime wie durch Terror umkamen.

Hier begegnen uns bereits die beiden wesentlichen Charakteristika der Kriegslogik. Zum einen die extreme Disproportionalität zwischen Ereignis und Reaktion. Die Bedrohung durch den Feind wird überdimensional groß gezeichnet, die Antworten stehen in keinem Verhältnis zur ursprünglichen Tat. Zum anderen die Unfähigkeit, den Kreislauf von Ursache und Wirkung zu erfassen. Gewaltakte wie Terroranschläge werden als geschichtslose Manifestationen eines Urbösen gedeutet, die Welt zerfällt in eine manichäische Dualität von Gut und Böse, die keine Komplexität, keine Schattierungen mehr zulässt. Eine Analyse der Ursachen und der Vorgeschichte findet nicht statt, insbesondere nicht, wenn es um eigene Fehler oder gar eine Mitschuld geht. Im Gegenteil: Wer die Entstehungsgeschichte der Gewalt und die Rolle der eigenen Regierungen dabei thematisiert, wird der Relativierung und Verharmlosung des Feindes bezichtigt.

Nach dem blutigen Anschlag der Hamas auf Israel, dem 1140 Menschen zum Opfer fielen, hätte man erwarten können, dass aus der verheerenden Bilanz des Kriegs gegen den Terror gelernt worden wäre. Doch stattdessen unterstützten westliche Regierungen die israelische Regierung dabei, die Fehler von damals zu wiederholen. Erneut erleben wir eine geradezu obszöne Disproportionalität der militärischen Reaktion, der mittlerweile 34.000 Menschen, davon 14.000 Kinder, zum Opfer gefallen sind. Das sind 30-mal so viele Tote wie am 7. Oktober. Die Ursachen der Gewalt werden dabei nicht nur ausgeblendet, sondern durch permanente Traumatisierung und Erniedrigung des Gegners sogar potenziert. Eine Analyse der Gründe der Eskalation, die etwa Israels 16-jährige völkerrechtswidrige Blockade des Gazastreifens mit in den Blick nimmt, wird als Relativierung der Hamas-Verbrechen und Verrat an Israel denunziert.

Die Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu verstehen, die Maßlosigkeit der Reaktionen, die pompös-narzisstische Selbstinszenierung als Vertreter des Guten, die Denunzierung und Unterdrückung von Kritik, das Fehlen von Empathie gegenüber den Opfern und die Unfähigkeit, auch nur ein Minimum an Komplexität zu erfassen, sind Zeichen einer beängstigenden geistigen Regression in den politischen Eliten der westlichen Welt. Tatsächlich erinnert diese Regression auf beunruhigende Weise an die „Schlafwandler“ am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Und damit wären wir beim Ukrainekrieg, der ebenso wie der Gazakrieg das Risiko einer globalen Eskalation birgt. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine war zweifellos ein schwerer Verstoß gegen das Völkerrecht und ein Verbrechen gegen das ukrainische Volk. Und doch enthebt uns dieser Befund nicht einer Analyse der Ursachen und der Frage, ob und wie dieser Krieg hätte vermieden werden können, welche Rolle der Westen dabei spielte – und wie er wieder beendet werden kann. Es sollte zum selbstverständlichen Rüstzeug politischer Analyse gehören, dass Ursachenforschung nichts mit der Legitimierung von Verbrechen zu tun hat.

Doch selbst diese Minimalanforderungen an rationales Denken scheinen westliche Außenpolitiker zu überfordern. Statt den Krieg in der Ukraine als Ausdruck von geopolitischen und regionalen Interessenkonflikten zu sehen, die eine Vorgeschichte haben und sich möglicherweise sogar diplomatisch lösen ließen, wird er als manichäischer Kampf des stets tugendhaften Westens gegen den teuflischen Drachen aus dem Osten dargestellt, der getrieben ist von einer unersättlichen Gier nach Macht, Blut und Land. Typisches Indiz dieses Rückfalls in mythisches Denken ist die Inflation von Hitler-Vergleichen, denen sich jüngst auch Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hingab. Das Ganze gipfelt in der durch und durch regressiven Fantasie, dass dieses satanische Untier uns alle – sprich: ganz Europa – verschlingen wolle. Pistorius, der offenbar über eine Kristallkugel verfügt, orakelte bereits, dass es in „fünf bis acht Jahren“ soweit sei. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die russische Führung so selbstmörderisch sein würde, ein Nato-Land anzugreifen und sich damit selbst ins nukleare Nirvana zu befördern.

Nüchtern betrachtet verfolgt Russland mit diesem Krieg klar umrissene und regional begrenzte Ziele. Dazu gehört insbesondere eine Neutralität der Ukraine, die auch im Zentrum eines möglichen Waffenstillstandsabkommens im Frühjahr 2022 stand. Doch anstatt sich an den zahlreichen Verhandlungsinitiativen zu beteiligen, hat die westliche Politik jede Diplomatie abgelehnt und auf einen Siegfrieden gesetzt, der selbst nach den Einschätzungen des Pentagons und des langjährigen Oberbefehlshabers der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, schon lange unrealistisch ist.

So taumelt der Westen ohne politisches Ziel, dafür aber mit pompöser Rhetorik in eine permanente Eskalation hinein, während sich in der Ukraine ein neues Verdun abzeichnet. Auf die geopolitischen Veränderungen, die mit dem Aufstieg Chinas und dem Abstieg der USA verbunden sind, kennt die intellektuelle Schlichtheit unserer politischen Führung nur eine Antwort: mehr Waffen. Dabei werden auf dem Altar der angeblich alternativlosen Aufrüstung so gut wie alle anderen drängenden gesellschaftlichen Aufgaben geopfert, von der Sozialpolitik bis zu einem ernsthaften Schutz der Biosphäre. Opferkulte sind stets Teil der Kriegslogik.

Doch die Logik des Krieges ist kein Schicksal. Die Antwort auf die Gewaltakte der jüngeren Vergangenheit liegt in unserer Hand. Weder der russische Einmarsch in die Ukraine noch der Anschlag der Hamas zwingen uns in eine Spirale von Militarisierung, Aufrüstung und Krieg. Im Gegenteil: Diese Spirale macht unser Leben und das Überleben unserer Spezies auf dem schwer geschundenen Planeten Erde nur noch unsicherer. Sicherheit können wir nur erreichen, indem wir die Ursachen der Gewalt angehen und eine neue Friedensordnung schaffen, die die Sicherheitsinteressen aller Beteiligter in gleicher Weise berücksichtigen: die von Israelis und Palästinensern, von Ukrainern und Russen, von Amerikanern und Chinesen.

Dafür müssen wir wieder lernen, die Welt auch durch die Augen der anderen zu sehen. Der Westen ist keine von Gott erwählte Macht des Guten in der Welt, er hat im Gegenteil eine 500-jährige Spur der Gewalt auf der Erde hinterlassen. Seine Vorherrschaft geht im 21. Jahrhundert unweigerlich zu Ende. Mögen wir die Weisheit finden, diesen Übergang zu akzeptieren und vielleicht sogar als Chance für eine neue, friedlichere Welt zu begreifen.