Samstag, 12. Juli 2025, Berliner Zeitung
„Kriegstüchtigkeit heißt: Besser darin werden, Menschen umzubringen“
Der Soziologe Hartmut Rosa warnt vor einer Gesellschaft, die Krieg als Normalität akzeptiert. Im Interview fordert er ein Ende westlicher Doppelmoral

Raphael Schmeller
Hartmut Rosa zählt zu den international renommiertesten Soziologen unserer Zeit. Ihn beschäftigt derzeit besonders die zunehmende Verrohung politischer Debatten. Ausgehend von umstrittenen Aussagen des Bundeskanzlers zur Rolle Israels im Nahen Osten bis hin zur sicherheitspolitischen Ausrichtung gegenüber Russland analysiert Rosa die tiefgreifenden Verschiebungen im politischen Denken .
Herr Rosa, Bundeskanzler Friedrich Merz hat kürzlich für Aufsehen gesorgt, als er sagte, Israel übernehme für uns die „Drecksarbeit“, wenn es den Iran bombardiert. Wie bewerten Sie diese Aussage?
Das ist eine Verrohung der Sprache mit bedrückenden historischen Anklängen. Ich habe mich gefragt, was passiert wäre, wenn jemand von der AfD so etwas gesagt hätte. Man muss sich klarmachen: Der Bundeskanzler hat Nazijargon verwendet.
Doch mehr als die Wortwahl beunruhigt mich die dahinterliegende Denkweise. Diese sprachliche Verrohung spiegelt eine Verrohung des Denkens wider, für die Merz nicht allein verantwortlich ist. Schon als Angela Merkel sich über die Tötung Bin Ladens freute, hatte ich ein ungutes Gefühl. Solche Sätze hätten wir früher nicht gesagt.
Es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn wir Krieg als Normalität akzeptieren. Denn Krieg bedeutet, Menschen zu töten, nicht, weil es gut ist, sondern weil es angeblich sein muss. Ich lehne mich mit meiner ganzen Existenz gegen diese Art des Denkens und Fühlens auf.
Nach dem Angriff der USA auf den Iran erklärten viele Politiker und Medien, das Völkerrecht sei zweitrangig, man müsse sich der Realität anpassen. Hat das Völkerrecht noch eine Zukunft?
Das Völkerrecht wird im Westen oft nur dann bemüht, wenn es den eigenen Interessen dient. Diese Doppelmoral radikalisiert sich derzeit. Merz sagte, am US-Angriff auf den Iran gebe es nichts zu kritisieren. Damit signalisiert er: „Das Völkerrecht ist mir egal.“ Das wird weltweit genau so verstanden.
Europa, das sich gerne als moralische Instanz sieht, macht sich zunehmend lächerlich. Unsere selektive Anwendung von Menschen- und Völkerrechten diskreditiert uns. Deutschland genoss einst hohes Ansehen, da wir keine Militärmacht waren und uns für eine regelbasierte Ordnung einsetzten. Doch in den letzten Jahren zeigen wir, dass uns diese Prinzipien nur dann interessieren, wenn sie uns nützen.
Wäre es nicht ehrlicher, wenn wir das Völkerrecht einfach aufgeben würden?
Das wäre fatal. Wir müssen daran festhalten, wenn wir nicht völlig verloren sein wollen. Die Alternative wäre ein Rückfall in zyklische Kriege. Die Geschichte zeigt: Wenn die letzten Zeitzeugen großer Kriege gestorben sind, scheint Krieg wieder eine realistische Option zu werden. Genau an diesem Punkt stehen wir heute, wo viele denken: „So schlimm ist das doch auch nicht. Da werfen wir wieder ein paar Bomben und bringen ein paar Leute um“. Doch diese Vorstellung, Konflikte mit Bomben zu lösen, führt ins nächste Desaster. Wir können uns solche Katastrophen nicht mehr leisten. Deshalb müssen wir die regelbasierte Ordnung bewahren und konsequent anwenden, statt sie zu missbrauchen.
Begriffe wie Kriegstüchtigkeit und Feindstaat prägen heute die öffentliche Debatte. Was macht diese Sprache mit unserer Gesellschaft?
In meiner Soziologie der Weltbeziehung habe ich bereits vor einiger Zeit den Gedanken formuliert, dass man Menschenrechte und demokratische Werte auf Dauer nach innen nicht aufrechterhalten kann, wenn man sie nach außen missachtet.
Ein zentraler Begriff meines Denkens ist der der Resonanzfähigkeit: auf andere zu hören und zu antworten, ohne dabei auf Kontrolle, Beherrschung und Dominanz abzuzielen. Wenn wir nach innen eine resonante Gesellschaft sein wollen, nach außen aber zum Beispiel die Menschen in Bangladesch, die unsere T-Shirts weben, ignorieren und die Russen als Feinde betrachten, führt das zu einer mentalen Schließung, die es uns auch nach innen unmöglich macht, resonant zu sein.
Das Denken, der Feind sei das Böse und müsse potenziell vernichtet werden, lässt sich ganz schnell auch auf den innenpolitischen Feind übertragen.
Sie meinen, die Art, wie wir Außenpolitik betreiben, hat auch Folgen für die Innenpolitik?
Ja, die Militarisierung findet dann auch im Inneren statt. Ich sehe mit Besorgnis, welche Signale derzeit an Kinder, Jugendliche und allgemein die Gesellschaft gesendet werden: Politische Probleme löst man am besten mit dem Hammer.
Im Moment höre ich, wenn es um internationale Beziehungen geht, nur noch von Gewalt reden: Aufrüstung, bunkerbrechende Bomben, Kriegstüchtigkeit – davon redet Pistorius Tag und Nacht. Man hat nur noch den Hammer im Blick.
Es gibt diesen schönen Spruch, der oft Mark Twain zugeschrieben wird, obwohl er, glaube ich, gar nicht von ihm stammt: „Wenn das einzige Werkzeug, das man führt, ein Hammer ist, sehen alle Probleme wie Nägel aus.“ Das heißt, man hat dann das Gefühl: Da ist das Problem, also hauen wir drauf. Das sind die Huthis, also senden wir die Fregatte Hessen hin. Da gibt es Probleme zwischen China und Taiwan, also schicken wir ein Kriegsschiff durch. Der Iran hat vielleicht Atomwaffen, also werfen wir mal bunkerbrechende Bomben drauf. Da gibt es ein Problem mit der Ukraine, also senden wir mal Taurus-Raketen hin.
Diese Methode des Hammers ist etwas, bei der man mental irgendwann nicht mehr unterscheiden kann, ob es sich um Innen- oder Außenpolitik handelt. Die Militarisierung der Gesellschaft greift um sich und erfasst dann auch das Innere der Gesellschaft. Wenn das die Zukunftsvision einer Gesellschaft ist, führt das ins Desaster.
Die Zeitenwende steht für diese neue Mentalität. Sie haben den Begriff sehr früh kritisiert. Was halten Sie daran für problematisch?
Zeitenwende signalisiert nicht, dass es jetzt plötzlich wieder Krieg gibt, denn es gab immer Krieg. Wir hatten den Jugoslawienkrieg in Europa, den Irakkrieg, den Afghanistankrieg und waren militärisch brutal in Libyen aktiv.
Die Zeitenwende bedeutet eine neue Haltung. Zuvor gab es das Bewusstsein und das Selbstverständnis, dass es leider noch Krieg gibt und dass wir diesen überwinden wollen. Die Zeitenwende sagt, das sei eine Illusion gewesen und das Einzige, worauf wir uns verlassen können, sei der Hammer.
Was folgt aus dieser neuen Haltung konkret?
Ich hatte neulich eine Diskussion mit Carlo Masala. Er meinte, Kriegstüchtigkeit sei das Gleiche wie Verteidigungsfähigkeit. Aber ich widerspreche: Nein, das ist es nicht. Kriegstüchtigkeit bedeutet, dass man sich darauf vorbereitet, Krieg zu führen, also zu töten und getötet zu werden. Dafür muss die Hemmung überwunden werden, die Menschen normalerweise gegenüber der Idee haben, andere umzubringen. Soldaten werden gezielt so trainiert, dass es ihnen im Zweifelsfall leichtfällt, Menschen zu töten.
Kriegstüchtigkeit heißt, dass sich unsere Gesellschaft darüber Gedanken macht, wie wir bessere Instrumente entwickeln, um andere Menschen umzubringen. Zeitenwende bedeutet also, dass wir besser in der materiellen und kulturellen Tötungstechnologie werden und bereit sein müssen, sie anzuwenden – das ist eine Katastrophe.
Wie konnte es so weit kommen?
Ich denke, das hat viel mit dem Generationsumbruch zu tun. Die älteren Generationen sind noch geprägt von den Erfahrungen ihrer Eltern oder Großeltern mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs. Für sie ist das „Nie wieder“ noch eine sehr starke Denk- und Seinsform, die nun verblasst, weil das kommunikative Gedächtnis nicht so weit zurückreicht.
Es sind neue Generationen in Verantwortungspositionen, die mit Computerspielen aufgewachsen sind und den Krieg als aseptisches Abendvergnügen in der Tagesschau sehen. Da liegt ja sozusagen ein gewisser Thrill darin, zu gucken, wo heute wieder Bomben gefallen sind. Das meine ich nicht zynisch, die menschliche Psyche ist leider so beschaffen. Zeitenwende bedeutet also auch ein völlig anderes Verhältnis zu Kriegen und ein anderes Verständnis davon.
Zeitenwende bedeutet auch, dass die Nato ein neues Ziel ausgibt. In Zukunft sollen fünf Prozent des BIP in die Aufrüstung fließen. Welche Folgen befürchten Sie?
Fünf Prozent des BIP sind enorm und entsprechen ungefähr der Hälfte des aktuellen Staatshaushalts. Natürlich wird es dann weniger Geld für Bildung, Soziales oder Klima geben. Aber ich bin kein Freund von solchen Rechnereien.
Ich finde, die Frage „Wieviel geben wir fürs Töten aus?“ ist fundamental anders als die Frage „Wieviel geben wir für Konjunkturprogramme oder Ähnliches aus?“. Wenn eine Gesellschaft fast die Hälfte ihres Haushalts in Mordinstrumente steckt, dann haben wir ein grundlegendes Problem, das über haushaltspolitische Fragen weit hinausgeht.
Verteidigungsminister Pistorius fordert, dass Deutschland in fünf Jahren kriegsfähig gegenüber Russland sein müsse. Welche Auswirkungen hat eine solche Aussage auf die Gesellschaft?
Betrachtet man historische Daten zur Lebenszufriedenheit, stellt man weltweit eine Tendenz fest. Zufriedene Menschen sagten: „Wir haben nicht viel, wir arbeiten hart, aber unsere Kinder werden es einmal besser haben.“ Und dieses Besserhaben war nicht nur ökonomisch gemeint. Sie dachten, ihre Kinder würden in einer friedlicheren Welt leben, eine bessere Bildung und Gesundheitsversorgung erhalten und freier sein, sie würden ihr Leben selbst gestalten können. Dieses Versprechen hat Menschen dazu gebracht, ihr eigenes Leben als gut zu empfinden, weil sie in eine helle, lebenswerte Zukunft blickten.
Heute ist das Gegenteil der Fall. Europäer, wahrscheinlich auch Amerikaner, und übrigens viele Menschen im Mittelstand, sagen heute: „Wir haben viel, wir arbeiten hart, aber unseren Kindern wird es einmal schlechter gehen.“ Wenn wir unseren Jugendlichen sagen, dass sie in fünf oder zehn Jahren Krieg erleben werden und dass dann auch noch eine Klimakatastrophe über sie hereinbricht, bewegen wir uns auf einen gesellschaftlichen Abgrund zu.
Wie könnte ein Gegenentwurf zu dieser allgemeinen Aufrüstungs- und Angstpolitik aussehen?
Ich beharre darauf, dass wir unablässig daran arbeiten müssen, Alternativen zum Krieg zu entwickeln. Was die Ukraine und Russland betrifft, müssen wir zum Beispiel überlegen, wie eine neue europäische Sicherheitsarchitektur aussehen könnte.
Die meisten deutschen Politiker sagen, das könne nur gegen Russland sein. Ich sehe das überhaupt nicht so. Das empört mich, denn wenn man sich die Geschichte anschaut, haben wir Deutschen die Russen in den letzten 200 Jahren mindestens dreimal überfallen. Jedesmal mit dem Gefühl, wir müssten den „Barbaren” da drüben mal Zivilisation beibringen.
Deshalb finde ich die Idee empörend, die europäische Sicherheitsarchitektur langfristig nur gegen Russland auszurichten, genauso wie das Argument, der Russe sei sowieso gewalttätig. Das ist meiner Meinung nach eine Rückkehr in den Rassismus, die ich unerträglich finde – gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Putin ist nicht „der Russe“, wir sollten Russland vielmehr eine Perspektive für die Zeit nach Putin eröffnen.
Was konkret meinen Sie damit?
Was wir brauchen, ist eine Vision. Es wird ja immer gesagt: Die Aufrüstung hat doch mal super funktioniert im Kalten Krieg. Das mag stimmen, aber erstens standen wir 1962 und 1983 zweimal kurz vor einem Atomkrieg. Und es hat nur deshalb funktioniert, weil man nach der Kubakrise eingesehen hat, dass wechselseitig vertrauensbildende Maßnahmen nötig waren.
Heute brauchen wir wieder eine Vision für solche Dinge, zum Beispiel Abrüstungsverträge und die Stärkung der Uno. Wir brauchen Visionen für die großen Konflikte, die wir im Moment im Nahen Osten und in der Ukraine sehen. Ich finde, es ist nicht wirklich schwer, sich Möglichkeiten auszudenken, wie es dort weitergehen kann. Selbst Carlo Masala sagt, dass wir irgendwann verhandeln müssen.
Also überlegen wir doch, wie ein solches Verhandlungsergebnis aussehen könnte. Derzeit entwickelt jedoch leider niemand eine Vision, sondern alle reden nur noch davon, wie wir aufrüsten wollen. Ich halte das für pervers.
Würden Sie sagen, dass es in Deutschland an der Zeit für eine neue Friedensbewegung ist?
Ja, gerade vor dem Hintergrund unserer Geschichte ist das heute unbedingt notwendig.
Welche Rolle und Verantwortung sehen Sie für sich selbst sowie für die Geistes- und Sozialwissenschaften insgesamt in dieser aktuellen Lage?
Um ehrlich zu sein, habe ich selten Lust auf Interviews wie dieses, da ich bereits ahne, welche Konsequenzen sie haben werden. Es gibt wieder einen gewaltigen Shitstorm. Ich werde dann als Putin-Freund, Naivling, Ewiggestriger und so weiter bezeichnet. Wer hat schon Lust, sich dem freiwillig auszusetzen?
Deshalb frage ich mich immer: Soll ich das eigentlich machen? Und ich komme zu dem Ergebnis: Ja, ich glaube, es gibt eine Pflicht dazu. In gewisser Weise würde ich sagen, ich werde dafür bezahlt.
Wie meinen Sie das?
Mein grundsätzliches Selbstverständnis ist das folgende: Menschen sind selbstinterpretierende Wesen. Das bedeutet, dass das, was wir sind, wer wir sind, wo wir hinwollen und in welcher Gesellschaft wir leben, immer auch davon abhängt, wie wir uns verstehen. Unsere Wirklichkeit wird maßgeblich von unserem Selbstverständnis geprägt. Wer wir sind, hängt davon ab, wie wir uns und die Welt deuten. In unserem Zeitalter sind Medien und Wissenschaften, insbesondere die Sozialwissenschaften, ein zentraler Ort der Selbstverständigung. Als Soziologe versuche ich, Selbstdeutungen zu entwickeln.
Ich behaupte daher gerade nicht, unbestreitbares Wissen zu produzieren. In diesem Interview trete ich nicht als derjenige auf, der alles weiß, sondern als jemand, der versucht, den ihm bestmöglichen Vorschlag zu machen, wie wir uns in dieser Situation im frühen 21. Jahrhundert, in der ein Dritter Weltkrieg droht, selbst verstehen können. Sich selbst zu verstehen heißt: Wie sind wir hierhin geraten? Was ist unsere Lage, und wie können wir wieder daraus herauskommen?
Und da sehe ich eine Aufgabe für die Geistes- und Sozialwissenschaften: Wir müssen Vorschläge für diese Selbstinterpretation machen, aber nicht mit dem Anspruch, es besser zu wissen, sondern um in den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu treten.