Zwei Grundübel prägen nicht allein die Außenpolitik Deutschlands: ihr Übermaß an Moralismus, oft genug gepaart mit Heuchelei, und ihr generelles Unvermögen, die neu entstehende multipolare Weltordnung aktiv mitzugestalten. Deutsche Eigeninteressen selbstbewusst zu vertreten, ja, sie auch nur zu benennen, fällt hiesigen Entscheidern schwer. Die in Politik und Medien tonangebenden „Transatlantiker“ haben ihre Rolle als dankbare Vasallen Washingtons so sehr verinnerlicht, dass ihnen allein der Gedanke, den Schurken dieser Welt auf Augenhöhe zu begegnen, offenbar schier unerträglich ist. Allen voran gilt das für Russland, China und den Iran.

Auch die deutsche Nahostpolitik ist getragen von Ideologie, nicht Pragmatismus. Hier die Guten, dort die Bösen. Abzulesen etwa an der Aussage von Kanzler Merz, Israel erledige mit seinem völkerrechtswidrigen Angriff auf den Iran im Juni 2025 die „Drecksarbeit“ für uns alle – gemeint war vermutlich die westliche, die freie Welt als solche.

Sich ehrlich machen

Dieses Statement hat Deutschlands Reputation im Globalen Süden nicht weniger beschädigt als die fast schon bedingungslose Unterstützung Berlins für den Vernichtungsfeldzug Israels im Gazastreifen. Namens der „Staatsräson“, der Ultima Ratio deutschen Gutmenschentums. Es ist jedoch nicht sehr glaubwürdig, den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine zu verurteilen und zu sanktionieren, denjenigen Israels auf den Iran dagegen zu bejubeln. Dergleichen Heuchelei wird außerhalb der hiesigen Echokammern sehr wohl als solche wahrgenommen: Einer der Gründe, warum sich die Glaubwürdigkeit einer überwiegend moralisierenden deutschen Außenpolitik im freien Fall befindet.

Wie also sollte sie zeitgemäß und konstruktiv neu formatiert werden?

Zunächst einmal gilt es, sich ehrlich zu machen. Realitäten anzuerkennen und nicht projektiven Wahrnehmungen zu erliegen. Die „Staatsräson“, das zentrale Glaubensbekenntnis deutscher (Außen-)Politik, beruht wesentlich auf der Annahme, die richtigen historischen Lehren aus dem Menschheitsverbrechen Auschwitz habe gezogen, wer sich vorbehaltlos und ohne Wenn und Aber hinter Israel stelle – ganz gleich, wie rechtsextrem die dortige Regierung verfasst sein mag, welcher Untaten sie auch bezichtigt wird. Entsprechend fokussiert sich die hiesige Nahostpolitik auf Israel, kreist sie um das „Existenzrecht“ des jüdischen Staates, als sei er das Liechtenstein des Nahen Ostens, nicht dessen Sparta.

Und genau deswegen bedarf es eines Perspektivwechsels. Der Maßstab im Umgang mit Israel kann nur das Völkerrecht sein. Nicht aber der nebulöse Begriff der „Staatsräson“, der einen Heiligenschein beansprucht, tatsächlich aber juristische wie politische Beihilfe leistet für schwerste Menschenrechtsverletzungen bis hin zum Völkermord im Gazastreifen. Der vorangegangene Großangriff und Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 in Südisrael legitimiert diese Kriegsführung der verbrannten Erde nicht. Auch deswegen war es dringend geboten, die deutschen Waffenlieferungen an Israel auszusetzen. Solidarität mit dem jüdischen Staat? Selbstverständlich. Und zwar in den Grenzen des 4. Juni 1967, vor Beginn des Sechstagekrieges, vor Beginn der völkerrechtswidrigen und bis heute andauernden israelischen Siedlungs- und Besatzungspolitik. Deutsche Politiker, die ständig anmahnen, andere mögen das „Existenzrecht“ Israels anerkennen (völkerrechtlich ein weißer Schimmel, alle UN-Mitglieder haben qua Mitgliedschaft ein quasi verbrieftes „Existenzrecht“), sollten gleichermaßen auch die israelische Regierung auffordern, das „Existenzrecht“ Palästinas anzuerkennen. Wenigstens aber das Lebensrecht von Palästinensern. Last, but not least: Die richtigen Lektionen aus der jüngeren deutschen Geschichte hat nicht gelernt, wer sich vorbehaltlos hinter Israels jeweilige Regierung stellt. Sondern wer lautstark seine Stimme verlässlich dort erhebt, wo epochales Unrecht geschieht – ganz gleich, von wem begangen.

Allen voran bedeutet das konkret:

Deutschland sollte den Staat Palästina anerkennen, wie es zuletzt Großbritannien, Frankreich, Kanada oder Australien getan haben – insgesamt immerhin 157 von 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen.

Aussetzung der militärischen Zusammenarbeit mit Israel, bis der Weg zu einer Zweistaaten-Lösung gewiesen ist.

Suspendierung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel, solange die israelische Besatzung andauert. Diese Forderung unterstützen 17 von 27 EU-Staaten. Bislang ohne Erfolg, vor allem infolge des Vetos aus Berlin.

Grundsätzlich gilt es, zwischen Moralisierung und einer nüchternen Bestandsaufnahme gegebener Realitäten zu unterscheiden. Wohl wissend, dass Erklären und Rechtfertigen zweierlei sind. Deutsche Politik leistet diese Unterscheidung in aller Regel nicht, mit der Folge gravierender Fehleinschätzungen. In der hiesigen Wahrnehmung gelten etwa die Hamas oder die libanesische Hisbollah als bloße „Terrororganisationen“. Man mag das aus deutscher Perspektive so sehen. Sollte aber gleichwohl zur Kenntnis nehmen, dass beide entstanden sind als Reaktion auf israelische Besatzung. Das erklärt ihre große Anhängerschaft, andernfalls könnten sie nicht Abertausende Kämpfer rekrutieren. Deren regionale Unterstützer betrachten Hamas wie Hisbollah als Widerstandsorganisationen gegen ihre Entrechtung und israelische Hegemonieansprüche in der Region.

Die hierzulande vorherrschende Auffassung, beide würden aus Teheran gelenkt und gesteuert, um Israel zu „vernichten“ greift zu kurz, ist geschichtsklitternd. Wer alles nur aus israelischer oder westlicher Mainstream-Sicht zu beurteilen gewohnt ist, landet unweigerlich bei des Kanzlers Wort von der „Drecksarbeit“ – mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Es ist deutscher (Außen-)Politik nicht gegeben, die innenpolitischen Verhältnisse in Russland, China, dem Iran, wo auch immer, zu verändern. Was wünschenswert erscheinen mag, endet meist als bloße Hybris. Die westlichen und deutschen Boykottmaßnahmen gegenüber dem Iran, obwohl nicht Teheran, sondern US-Präsident Trump das laut Internationaler Atomenergiebehörde einwandfrei funktionierende Atomabkommen mit der Islamischen Republik 2018 einseitig aufgekündigt hat – die seither massiv verstärkten Sanktionen haben was genau bewirkt? Den immer enger werdenden Schulterschluss zwischen Teheran, Moskau und Peking, die heute politisch, wirtschaftlich und militärisch eng kooperieren. War und ist das nun eine Glanzleistung westlicher Entscheider? Was hätte, was hat denn diese oder die vorangegangene Bundesregierung daran gehindert, die Gesprächsebene mit dem Iran offen zu halten, sie fortzuführen, den unsinnigen Sanktionen, die allein die Bevölkerung treffen, eine Absage zu erteilen? Die sachliche Antwort lautet: Fehlendes Rückgrat gegenüber Washington und Tel Aviv, deren „Empfehlungen“ und/ oder Regieanweisungen.

Pragmatismus lautet das Schlüsselwort. Ich muss meinen Nachbarn nicht mögen, aber ich sollte ihn grüßen und in Streitfragen den Kompromiss suchen, nicht die Konfrontation. Das entsprechende Leitbild auf internationaler Ebene wäre die deutsche Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre. Sie gilt es auch für den Nahen Osten wiederzuentdecken.

Das Golfemirat Katar unterhält besten Beziehungen zu den USA, aber auch zu Russland und China. Es hat eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen zur Freilassung der israelischen Geiseln im Gazastreifen gespielt. (Zum Dank bombardierte Israel am 9. September die Hauptstadt Doha, um die Hamas-Unterhändler zu töten.) Die katarische Führung redet mit den Israelis, aber auch mit der Hamas und den Taliban. Ähnlich pragmatisch handelt auch die türkische Regierung, die etwa gute Beziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Russland unterhält.

Westliches Hegemoniestreben

Im Klartext: Katar wie auch die Türkei haben begriffen, was die sich abzeichnende multipolare Weltordnung auszeichnet. Mit allen reden – bis hin zu schmutzigen Deals. Und was hat die Bundesregierung dieser außenpolitischen Zeitenwende entgegenzusetzen? Zunächst eine „feministische Außenpolitik“, dann einen vermeintlichen Neuanfang unter Außenminister Johann Wadephul, im Englischen auch gehandelt, sorry to say, als „What a fool“. Wer eigentlich nimmt den selbst ernannten deutschen Moralweltmeister noch ernst? Bestenfalls als Zahlmeister ist Berlin noch gefragt.

Kurzum: Deutschland tut gut daran, sich außenpolitisch neu zu erfinden, nicht allein im Nahen Osten. Hände weg von Regimewechseln und rhetorischen Floskeln rund um „Werteorientierung“ oder die nicht minder famose „regelbasierte Ordnung“ – Umschreibungen für westliche Hegemoniebestrebungen auf globaler Ebene. Diese Zeiten aber nähern sich rapide ihrem Ende. Es gilt nationale Eigeninteressen selbstbewusst zu vertreten. Sie nicht zuletzt höher zu bewerten als die Interessen von Drittstaaten, als deren Sachwalter hiesige Außenpolitik bislang glaubt auftreten zu müssen.

Fazit: Es gibt viel zu tun. Packen wir’s also an.


Michael Lüders ist Nahostexperte, Publizist,
Politikberater und BSW-Vorstandmitglied.
Von Lüders ist zuletzt erschienen: „Drecksarbeit?
Israel, Amerika und der imperiale Größenwahn
im Nahen Osten“, Goldmann, München 2025.