Mittwoch, 25. Juni 2025, Berliner Zeitung
„Wir sollten einander zuhören“
Die Regisseurin Anja Panse über die unbewältigte Nachwendezeit und ihr neues Stück

Die gute Stimmung unter vier grillenden Campern droht zu kippen, als einer der Ostdeutschen den Westdeutschen entgegenruft: „Ihr habt uns doch 1990 kolonisiert!“ Mit diesem Kipppunkt spielt das Stück „Im Osten – Geschichten aus der Sonderzone“ der Theatergruppe Triple A in Potsdam. Die Regisseurin und Autorin Anja Panse wollte damit einer aus ihrer Sicht unterrepräsentierten Perspektive auf die Nachwendezeit Raum geben – der der Ostdeutschen. Wir haben sie gefragt, was in ihrem Stück steckt und wie sie die Sache selbst sieht.
Frau Panse, was hat Ihnen gefehlt im öffentlichen Diskurs über die Wende?
Wir haben erlebt, dass die deutsche Teilung bei vielen Menschen nach wie vor eine Rolle spielt und dass die Nachwendezeit immer nur aus einem bestimmten Blickwinkel beleuchtet wurde. Als Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ herauskam, da hat sich in den Medien eine Art Shitstorm herausgebildet, den er ertragen musste wegen einer anderen Sicht, weil er auch Fragen wie diese stellt: Wer hat denn nach der Wende eigentlich die Leitung von Betrieben, Verwaltungen, in der Politik übernommen? Das waren zu 90 oder mehr Prozent Menschen aus dem Westen. Was hat das für Auswirkungen auf die Realität und Mentalität der Ostdeutschen gehabt?
Mit Ihrer 2021 gegründeten Theatergruppe Triple A haben Sie ein Genre erfunden, das Histopical heißt. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass wir historische Ereignisse erforschen, in dramatisch-fiktionalen Geschehen für die Bühne bearbeiten und dabei auch Handlungsalternativen oder Lösungen vorschlagen. Beim Stück „Peace Food“ arbeiten sich etwa zwei Clowns durch die Geschichte von gewalttätigen Auseinandersetzungen und Kriegen. Am Ende sitzen sie mit dem Publikum bei einer Suppe zusammen, die während der Aufführung zubereitet wird. In dieser Situation können alle sich über ihr Verhältnis zu Krieg und Frieden austauschen – und darüber, wie sie die Weltsituation sehen. Für „Im Osten“ haben wir uns gedacht: Machen wir Interviews und fragen, wie geht es Menschen in Ostdeutschland und Westdeutschland 36 Jahre nach der Wende. Wir haben etwa 50 Menschen aus allen Schichten interviewt, in teilweise sehr langen Gesprächen.
Was haben Sie erfahren?
Da gibt es zum Beispiel jemandem, der im Gefängnis saß, weil er Republikflucht versucht hat. Da gibt es aber auch Menschen, die gar keine negativen Erfahrungen in der DDR gemacht haben. Sie hatten ein Gefühl von Sicherheit, dass ihnen nichts passieren kann, dass sie sich nie Sorgen um einen Arbeitsplatz oder bezahlbaren Wohnraum machen müssen. Sie fühlten sich von einem gemeinschaftlichen Gefühl getragen. Das Einzige, was diese Menschen als negativ beschreiben, ist, dass sie nicht reisen durften. Das war natürlich ein großes Problem, dass die DDR ihre Bürger eingesperrt hat. Spätestens mit 18 hätte ich das auch nicht gewollt. Wir haben auch Westdeutsche gesprochen, die sehr früh nach Ostdeutschland kamen. So kam ein vielfältiges Bild zustande, das in die Bühnenfiguren eingeflossen ist.
Wie ist Ihre eigene Geschichte mit der DDR?
Ich wurde 1976 in Thüringen geboren, habe meine Kindheit in der DDR verbracht. Der Systemwechsel kam in meiner Pubertät, das habe ich als radikalen Einschnitt erfahren. Die Hälfte der Eltern meiner Klassenkameraden war plötzlich ohne Arbeit. Das hat natürlich etwas verändert. Die Menschen standen unter einem anderen Druck. Die einen konnten sich entfalten, die anderen waren zu Hause und spürten, dass sie nichts mehr wert waren, ihre Leistung nicht mehr anerkannt wurde. Außerdem wurde in der Schule plötzlich das Gegenteil gelehrt als drei Monate zuvor. Wir hatten plötzlich Wirtschaft und Recht – wo wir lernten, was uns vorher als nicht gut vermittelt wurde: dass jeder zusehen muss, wie er Wachstum generiert. Vorher ging es eher um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für uns waren das die gleichen Lehrer, die uns das System plötzlich neu vermittelt haben. Das habe ich als sehr bedeutende Seltsamkeit gespürt, wie man das einfach so übernehmen kann, ohne es zu reflektieren.
Sie haben also durchaus positive Erinnerungen an die DDR-Zeit?
Natürlich gab es sehr negative Aspekte: Überwachung, Stasi, Repressionen, wenn man andere Meinungen hatte. Das thematisieren wir auch im Stück. Aber wenn ich mich an mein Aufwachsen erinnere: Ich bin im elfstöckigen Plattenbau groß geworden und kannte jede Person im Haus, Ärzte, Lehrer, Wismut-Arbeiter. Das war ein Grundmotiv im Sozialismus, dass man seinen Nachbarn unterstützt, und wir haben uns gegenseitig unterstützt. Heute lebt man im Haus und kann froh sein, wenn man seine Nachbarn überhaupt erkennt.
Würden Sie den Satz unterschreiben, der im Stück an die Westdeutschen gerichtet wird: „Ihr habt uns doch 1990 kolonisiert“?
Das ist natürlich überspitzt. Aber es geht im Stück zum Beispiel um die Frage: Was ist mit den Menschen passiert durch die Treuhandanstalt, die dafür zuständig war, Volkseigene Betriebe nach kapitalistischen Grundsätzen zu privatisieren? 8500 Betriebe wurden einfach abgewickelt nach der Wende, vier Millionen Arbeitslose nur im Osten waren die Folge. Im Westen wurden gleichzeitig zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen, der Westen hat einfach die komplette Exportwirtschaft übernommen. Im Kaliwerk Bischofferode sind sie damals in den Hungerstreik getreten, bis nach Bonn und zum Papst gelaufen. Das ist ein gut dokumentierter Fall. Sie hatten Aufträge, das Werk schrieb gute Zahlen, aber es stand in Konkurrenz zur westdeutschen Kali-Industrie. Das wird im Stück genauso thematisiert wie dieser Punkt, dass im deutschen Recht verankert wurde, dass Grundstücke, auf denen Ostdeutsche Häuser gebaut hatten, an westdeutsche Vorbesitzer zurückgegeben wurden. Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerungsgruppe in Europa, die am wenigsten von dem Grund besitzen, auf dem sie leben. Das wird etwa in Büchern von Daniela Dahn erwähnt, die ich zur Recherche gelesen habe. Bei vielen Dokumentationen aus der Nachwendezeit sind mir Tränen in die Augen geschossen. Die Treuhandakten stehen bis heute unter Verschluss. Selbst Ostdeutsche wissen das oft nicht.
In welche Geschichte betten Sie diese Recherchen ein?
Zwei Ostdeutsche und zwei Westdeutsche treffen auf einem Campingplatz aufeinander. Alles beginnt ganz harmlos mit einem Grillabend mit Thüringer Bratwurst und Bautzner Senf. Aber in den Gesprächen äußern sich schleichend unterschiedliche Wahrnehmungen, etwa über die Betriebe, die abgewickelt wurden. Eine Figur ist kurz nach der Wende rübergekommen und konnte über die Treuhand für wenig Geld eine Fabrik kaufen. Da springen wir auch in diese Zeit zurück, zu den Arbeiterinnen und Arbeitern in einer Matratzenfabrik und wie sie sich gefühlt haben mit ihrem neuen Eigentümer. Im Stück wird knallhart diskutiert, aber ein wichtiges Element ist bei uns immer Humor, dass man auch über die Dinge lachen kann. Die Reaktionen sind teilweise überwältigend. Zusammen mit einem Medley von live gespielten Ost-Hits werden die Menschen sehr berührt von ihrer Vergangenheit, davon, dass Dinge einmal so ausgesprochen werden, wie sie sie empfunden haben.
Was könnte die Gräben überwinden?
Zuzuhören und die Sichtweisen der anderen Seite zu akzeptieren. Das sagt auch eine Figur, dass das aufgearbeitet, gesehen und gehört werden sollte, vielleicht in Form von Bürgerdialogen. Akten müssen veröffentlicht werden. Viele Ostdeutsche finden, dass ihre Wahrheit zu wenig repräsentiert wird, dass es viel zu sehr nur ein Narrativ gibt. Wir müssen Verständnis füreinander entwickeln, alte Gewissheiten hinterfragen.
Interview: Max Florian Kühlem
„Im Osten“ läuft vom 27. Juni. bis 6. Juli in der Zimmerbühne Potsdam (Zimmerstraße 12b, 14471 Potsdam), danach gibt es weitere Termine in Brandenburg und im Herbst auch Gastspiele im Westen. Kartenreservierungen für Potsdam unter der Telefon-Nummer 0177-4305948 und per Mail unter contact@triple-a-theater.de, mehr Infos unter triple-a-theater.de.