Seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine plädiert China für Frieden, allerdings ist es ein eher vager Aufruf. Am ersten Jahrestag der russischen Invasion in der Ukraine startete Peking eine neue Welle von Friedensoffensiven und gab eine 12-Punkte-Erklärung über „Chinas Position zu einer politischen Lösung der Ukraine-Krise“ heraus.

Außerdem beschloss Chinas Staatschef Xi Jinping, nach Moskau zu reisen, um sich persönlich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu treffen, die Länder „zum Frieden zu bewegen und Gespräche zu fördern“. Der Zeitpunkt von Pekings Friedensoffensive lässt vermuten, dass Chinas Führung über eine Niederlage Russlands und den anschließenden Sturz des Putin-Regimes besorgt sein dürfte.

Anstatt sein Ziel, die Ukraine als Staat zu zerstören, zu erreichen, hat Russland in diesem Krieg schwere Verluste erlitten und wurde vom Westen sanktioniert und von der internationalen Gemeinschaft isoliert. Infolgedessen braucht Russland nun dringend wirtschaftliche und militärische Unterstützung von seinem größten Partner China. Es wäre logisch gewesen, wenn Putin Peking besucht hätte. Nun besuchte Xi Jinping stattdessen Moskau, was darauf hindeutet, dass Peking seine eigene Agenda verfolgt. Pekings Ziel ist es nicht so sehr, das Land „zum Frieden zu bewegen und Gespräche zu fördern“, sondern vielmehr die eigenen nationalen Interessen zu wahren.

Der Tiger kann sich zurücklehnen

In diesem Krieg sieht sich Peking mit drei Szenarien konfrontiert. Erstens will Peking unterm Strich sicherstellen, dass Putins Regime nicht durch eine Niederlage gestürzt wird, was dazu führen könnte, dass prowestliche Kräfte in Russland an die Macht kommen. China steht derzeit unter enormem Druck seitens der USA, da Washington seine indopazifische Strategie stetig vorantreibt.

Es gibt nicht nur die seit über 80 Jahren bestehende Five Eyes Intelligence Alliance (Australien, Kanada, Neuseeland, Großbritannien und USA), sondern auch die neu gegründeten AUKUS (Australien, Großbritannien und USA) und QUAD (USA, Japan, Australien und Indien). Peking befürchtet daher, dass eine „asiatische Nato“ entsteht, die China umzingelt.

Wenn Putins Regime fällt und prowestliche Kräfte in Russland an die Macht kommen, wird sich Russland unweigerlich dem westlichen Lager anschließen, um China einzudämmen; und China wird in einer O-förmigen Einkreisung gefangen sein. Selbst wenn Russland post Putin neutral bleibt und sich nicht dem Westen anschließt, wird China dem strategischen Druck der USA und des Westens allein ausgesetzt sein. Für Peking wäre dies zweifelsohne ein doppelter geopolitischer und ideologischer Albtraum.

Peking muss daher dieses Worst-Case-Szenario auf jeden Fall verhindern und wird sicherlich versuchen, Putins Regime zu erhalten. Denn trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche verfügt Russland immer noch über ein riesiges Territorium, reiche natürliche Ressourcen und starke strategische Kernwaffen. Als große unabhängige geopolitische Einheit ist Russland Pekings mächtigster Verbündeter im Kampf gegen die USA und den Westen.

Xi Jinping betrachtet Putin als seinen besten Freund, und diese Reise nach Moskau war das 40. Mal, dass sich die beiden von Angesicht zu Angesicht trafen. Ihre Schicksale sind miteinander verbunden, ein Sturz Putins wäre ein schwerer Schlag für Xi. Xis persönliche Präferenzen könnten sich auch entscheidend auf Chinas Außenpolitik auswirken, da er der stärkste Führer seit der Gründung der Volksrepublik China ist.

Zweitens könnte Peking die Fortsetzung des Krieges und die Aufrechterhaltung eines Zermürbungskrieges akzeptieren, da dies die amerikanischen und westlichen Streitkräfte von einer massiven Verlagerung in den indopazifischen Raum abhalten und somit den strategischen Druck auf Peking verringern würde.

In einem langwierigen Zermürbungskrieg würde Russland auch geschwächt, was in der Tat in Pekings strategischem Interesse läge, was das Land aber nicht öffentlich äußern kann. Historisch gesehen hatte das Zarenreich China ein großes Territorium abgenommen, die Sowjetunion stellte eine ernsthafte militärische Bedrohung für China dar und zwang es zum kostspieligen Aufbau der „dritten Front“, um sich gegen eine Invasion aus dem Norden zu verteidigen. Wenn dem russischen Bären im Ukraine-Krieg die Zähne gezogen würden, würde dies die Nordgrenze Chinas real sicherer machen, was objektiv zu Chinas Vorteil wäre.

Letztlich wäre es für Peking aber am günstigsten, wenn Russland die Ukraine schnell militärisch besiegen und das Land vollständig besetzen würde. Denn dies würde zu einer langwierigen Konfrontation zwischen der Nato und Russland führen und sogar die Möglichkeit eines direkten Krieges mit sich bringen. In einem solchen Szenario würden sowohl der Westen als auch Russland verlieren, während China sich zurücklehnen und den Tigern beim Kampf zusehen könnte.

Mehr als ein Jahr nach Beginn des Krieges, da Russlands konventionelle Streitkräfte weit weniger gut vorankommen als erwartet und keine Aussicht auf eine rasche Besserung in Sicht ist, ist das dritte Szenario nur schwer vorstellbar. Tatsächlich befindet sich der Konflikt derzeit im zweiten Szenario, da der Krieg in die Zermürbungsphase eingetreten und keine Seite in der Lage ist, die andere schnell zu besiegen.

Die Ukraine und das westliche Lager, das hinter ihr steht, sind jedoch zusammengenommen weitaus mächtiger als Russland. Zugleich hat Peking Schwierigkeiten, Russland in großem Umfang militärische Unterstützung zu gewähren.

Wenn Moskau von Peking die Einlösung seines Versprechens einer „unbegrenzten Freundschaft“ verlangt, kann Peking dem nicht ohne die Androhung von Sanktionen durch Europa und die USA folgen, mit denen es weitaus engere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen unterhält als mit Russland. Ohne die militärische Unterstützung Pekings könnte Russland in diesem Zermürbungskrieg nicht lange durchhalten und die Situation könnte sich stark in Richtung des Worst-Case-Szenarios bewegen.

Peking muss darüber so besorgt sein, dass es zum jetzigen Zeitpunkt eine „Friedensoffensive“ startet, wahrscheinlich mit dem grundlegenden Ziel, Putin zu überzeugen, sein Vordringen zu einem Zeitpunkt zu stoppen, wenn Friedensgespräche zumindest die bereits besetzten ukrainischen Gebiete sicherstellen könnten. Peking könnte erkannt haben, dass die Zeit der Ukraine in die Hände spielt. Die Ukraine könnte mit dem Eintreffen westlicher schwerer Waffen eine strategische Gegenoffensive starten, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass Putins Regime in einer Niederlage zusammenbricht, von Tag zu Tag steigt.

Selbst wenn die Friedensoffensive scheitern sollte, hat sie für Peking einen hohen Propagandawert, da sie Europa zeigt, dass es auf Frieden und Gespräche drängt, während die USA mit dem Versuch, den Krieg zu verlängern, Öl ins Feuer gießen. Peking ist daher der Ansicht, dass eine Friedensoffensive zum jetzigen Zeitpunkt dazu beitragen wird, die USA und Europa zu spalten und die europäischen Länder dazu zu ermutigen, ihre „strategische Autonomie“ zu stärken, um sie davon abzuhalten, sich im strategischen Wettbewerb zwischen China und den USA ganz auf die Seite der USA zu schlagen, wie es Pekings Tradition der Einheitsfront entspricht.

Pekings Friedensoffensive dient also den eigenen strategischen Interessen, zumindest sicherzustellen, dass Putins Regime nicht gestürzt wird. Inwieweit Peking in der Lage ist, den Krieg zwischen Russland und der Ukraine in Richtung eines friedlichen Ausgangs zu bewegen, hängt davon ab, wie viel Einfluss Peking auf Moskau hat und wie es seinen Einfluss zu nutzen gedenkt.

Pekings Einfluss auf Kiew ist recht begrenzt und fast zu vernachlässigen, da es hauptsächlich der Westen ist, der der Ukraine militärische und wirtschaftliche Hilfe leistet. Pekings Einfluss auf Moskau ist dagegen vom fragwürdigen Ausmaß, da China Russland bisher hauptsächlich wirtschaftlich unterstützt hat, um seine Kriegsmaschinerie in Gang zu halten, aber keine direkte militärische Hilfe in großem Umfang geleistet hat.

Und die Rolle der wirtschaftlichen Bluttransfusionen Chinas an Russland könnte auch übertrieben dargestellt worden sein. Laut Statistiken des in Finnland ansässigen Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA) hat China seit Ausbruch des Krieges bis zum 14. März 2023 russische fossile Energieträger (Öl, Gas und Kohle) im Wert von insgesamt 66,2 Milliarden Euro gekauft, an die EU-Länder jedoch satte 146,3 Milliarden Euro gezahlt. Chinas wirtschaftliche Transfusion nach Russland ist nicht einmal halb so groß wie die der EU-Länder.

Der tatsächliche Einfluss Chinas auf Russland ist also nicht so groß wie angenommen. Peking bietet Moskau mehr ideologische Unterstützung, da beide zu den vom Westen als autoritär angesehenen Mächten gehören und beide mit der Förderung liberaler Werte durch den Westen unzufrieden sind.

Grünes Licht für die Eisenbahn

Natürlich ist sich Peking darüber im Klaren, dass der russische Krieg gegen die Ukraine ein ungerechter Krieg ist, da er gegen den internationalen politischen Grundsatz verstößt, den China seit Langem hochhält, nämlich dass die nationale Souveränität und die territoriale Integrität nicht von anderen Ländern verletzt werden dürfen.

Peking unterstützt Moskau, weil es Russland als Instrument für seine eigenen Sicherheitsinteressen betrachtet und erwartet, dass Russland als Schild zwischen China und dem Westen fungiert, wie die russische politische Elite nur zu gut weiß. Peking nutzt Moskaus Verzweiflung und Notwendigkeit aus, Energie zu verkaufen, um erhebliche Preisnachlässe zu erhalten, und ist nicht mehr so tolerant hinsichtlich Russlands engen Beziehungen zu seinen beiden feindlichen Nachbarn Indien und Vietnam.

Darüber hinaus hat Peking in Zentralasien, dem traditionellen Einflussgebiet Russlands, erheblich an Boden gewonnen. So musste Moskau grünes Licht für die chinesisch-kirgisisch-usbekische Eisenbahn geben, die es 25 Jahre lang blockiert hatte. Die Beziehungen Pekings zu Moskau sind also weitaus komplexer, als sie nach außen hin erscheinen. Da die chinesisch-sowjetische Freundschaft während des ersten Kalten Krieges nur etwa ein Jahrzehnt dauerte, bevor sie zerbrach und beide Seiten in den bewaffneten Zusammenstoß zogen, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass das chinesisch-russische Bündnis während des zweiten Kalten Krieges immer felsenfest sein wird.

Der Autor ist ein chinesischer Doktorand an

der Freien Universität Berlin mit Forschungs-

interessen in den Bereichen Internationale

Beziehungen, Geopolitik und Strategie.