Samstag, 18. Januar 2025, Berliner Zeitung
Mörder sind auch nur Menschen
Nach über einem Jahrzehnt als Seelsorgerin in der JVA Tegel hörte Christina Ostrick auf. Was denkt sie heute über das Gefängnis und die Inhaftierten?
Johann Voigt (Interview)
Christina Ostrick war knapp 14 Jahre lang Seelsorgerin der JVA Tegel, im vergangenen Jahr hörte sie auf. Hunderte Männer vertrauten ihr Sorgen und Ängste an, sprachen auch über grausame Taten. Im Interview erklärt Ostrick, warum man Mörder nicht auf ihre Tat reduzieren darf, warum sie im Gefängnis keine Angst haben durfte und wie schwer es ihr fällt, die JVA hinter sich zu lassen.
Frau Ostrick, nach mehr als einem Jahrzehnt als Seelsorgerin in der JVA Tegel haben Sie im vergangenen Jahr aufgehört. Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit einem Inhaftierten?
Telefonisch vor drei Tagen. Und Anfang des Jahres hat mich auch einer angerufen, um mir ein frohes neues Jahr zu wünschen.
Einfach so angerufen? Haben denn alle Inhaftierten, mit denen Sie gearbeitet haben, Ihre Nummer?
Früher war meine Devise: In der Anstalt bin ich erreichbar, darüber hinaus nicht. Seit dem Weggang aus der JVA haben einige meine Nummer. Ich verkaufe auf Weihnachtsmärkten zusammen mit den Inhaftierten von ihnen eingekochte Marmelade, das „Jail Jam“. Dafür halten wir Kontakt.
Im Dezember waren Sie auf dem Weihnachtsmarkt in Rixdorf. Lassen das Gefängnis und die Inhaftierten Sie nicht los?
Inzwischen kann ich loslassen, ein Leben ohne die JVA Tegel ist möglich. Aber es ist mir nicht leichtgefallen. Es geht um die Menschen. Ich habe eine Beziehung zu ihnen aufgebaut. Und sie haben Vertrauen geschöpft, auch wenn es ihnen schwerfällt.
Wann waren Sie zum ersten Mal in einem Gefängnis?
Während meines Theologiestudiums in Mainz gab es ein Seminar: „Seelsorge im Justizvollzug“. Dafür war ich in der JVA Gießen. Wir saßen dort im Kreis mit Inhaftierten. Ich habe die Männer als normale Menschen wahrgenommen, mich nicht unsicher gefühlt. Danach war mir klar: Ich will im Gefängnis arbeiten.
Wie sah Ihr Arbeitsalltag in Tegel aus?
Ich war Montag bis Freitag in der JVA, habe mit vier bis sechs Personen pro Tag gesprochen. Einige kamen nur kurz vorbei, weil sie Kleidung haben wollten, etwas Zucker oder einen Kaffee. All das ist im Gefängnis rar.
Sie waren als Seelsorgerin der evangelischen Kirche angestellt. Gab es auch muslimische Seelsorger?
Seelsorge gibt es von den beiden Kirchen. Imame – und auch ein Rabbi – bieten in Tegel religiöse Betreuung an. Sie stehen für Gespräche zur Verfügung, die aber nicht der Verschwiegenheit unterliegen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Wir sprechen uns dafür aus, dass es ein Recht auf seelsorgerliche Verschwiegenheit gibt.
Sie sind ausgebildete Pfarrerin. Wollten Sie Gefangene missionieren?
Seelsorgerinnen sind religiös geprägte Personen, aber sie müssen sich nicht über den Glauben unterhalten. Der Glauben kommt durch unsere Werte automatisch vor. Es kamen viele Menschen zu mir, die noch nie in der Kirche waren oder ausgetreten sind. Und es kamen auch muslimische und jüdische Inhaftierte.
Worüber wollten die Menschen mit Ihnen sprechen?
Muslimische Männer kamen interessanterweise oft mit Glaubensfragen und haben teilweise versucht, mich zu bekehren. Das fand ich putzig.
Worum ging es sonst?
Alltägliche Probleme, Schwierigkeiten im Vollzug, Konflikte mit Expartnern oder der Familie. Teilweise wollten die Männer auch über ihre Taten sprechen.
Welche Probleme haben die Inhaftierten der JVA Tegel?
Viele der Männer fühlten sich unverstanden. Das Urteil steht im Fokus; dass sie sich in den Jahren zwischen Straftat und heute verändert haben könnten, wurde nicht gesehen. Die Inhaftierten wollten als Menschen betrachtet werden. Wenn das nicht der Fall war, kamen sie zu mir in die Seelsorge. Viele von uns haben Schwierigkeiten damit, nicht nur den Straftäter zu sehen, sondern auch den Menschen dahinter.
Mörder werden also darauf reduziert, einen Mord begangen zu haben?
Genau. Wir sagen dann: Das ist eine Person, die einen Mord begangen hat. Es ist länger, das so zu sagen, aber richtiger. Ein Mörder ist mehr als nur der Mord, den er begangen hat.
Die Männer, die zu Ihnen gekommen sind, haben geprügelt, getötet, vergewaltigt. Wie sind Sie damit umgegangen?
In der Regel habe ich nicht gleich erfahren, was die Person gemacht hat. Ich habe sie über das kennengelernt, was sie mir erzählt hat. Die Taten haben mich natürlich erschreckt. Ich habe aber nicht nur die Tat, sondern auch die Nöte der Person kennengelernt. Durch die Gespräche konnte ich zumindest die Gründe nachvollziehen. Unser Büro ist eine Art Oase für die Insassen. Viele haben gesagt: Hier habe ich endlich etwas Ruhe. Dass das Fenster vergittert war, haben sie ausgeblendet.
Für die Inhaftierten muss es ein riesiger Druck sein, nur mit Männern in ein Gebäude eingesperrt zu sein. Sie müssen immer stark sein.
Viele sind mit einer „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“-Mentalität aufgewachsen. Nur unter Männern zu sein, nicht wegzukönnen, ständig ihre Taten zu vergleichen, das verändert die Menschen. In der Seelsorge können sie die Härte kurz abstreifen.
Haben Gefangene bei Ihnen in der Seelsorge geweint?
Das kam vor. Aber viele hatten seit Jahren nicht geweint. Sie haben es sich abgewöhnt, aber die Seele leidet trotzdem. Ich habe mich immer gefreut, wenn jemand Gefühle zulassen konnte.
Die Männer haben bestimmt viel auf Sie projiziert.
Ich hatte die unterschiedlichsten Rollen für die Menschen dort. Einige meinten, ich bin ihre Seelsorgerin, geschlechtslos. Andere hätten mich gern als Freundin gehabt und haben mir Angebote gemacht. Teilweise habe ich mich gefühlt wie die Mutter, die Oma oder die Lehrerin. Ich habe das dann thematisiert, um aus der Rolle rauszukommen.
Hatten Sie manchmal Angst?
Es gab Situationen, in denen ich dachte: Jetzt musst du aufpassen. Aber Angst hatte ich nicht. Die lädt nur dazu ein, dass etwas passiert.
Ist Angst nicht etwas ganz Natürliches?
Klar, aber die Menschen im Gefängnis haben ein gutes Gespür für die Schwächen und Vorlieben der anderen. Es ist für sie essenziell, ihr Gegenüber lesen zu können. Sie merken, wenn jemand Angst hat und nutzen das manchmal auch aus.
Gab es Situationen, die Sie falsch eingeschätzt haben?
Ganz am Anfang saß mir ein schmächtiger Mann gegenüber. Er kam mir nicht besonders stark vor. Er wollte mir dann zeigen, wie er jemanden geschlagen hat und begann, in die Luft zu boxen. Seine Augen veränderten sich und ich habe gemerkt: Da eskaliert gerade was. Seelsorge ist in erster Linie nachgehend, freundlich. Aber ich kann auch Fragen stellen, die Menschen nahegehen, sie provozieren. In dem Fall war es der falsche Weg.
Wie kam es dazu, dass die Person in die Luft geboxt hat?
Ich habe nach seiner Tat gefragt. Viele erzählen genau, wie es dazu gekommen ist und gehen nochmal in die Situation rein. Er wollte, dass ich mir die Gewalt vorstellen kann. Ich habe dann das Thema gewechselt, und die Person hat sich entspannt.
Und wenn er Sie angegriffen hätte?
Ich hatte ein Funkgerät und hätte Alarm auslösen können. Dass ich das Funkgerät hatte, ging von den Justizmitarbeitern aus. Ich war im Büro alleine, bin nicht sonderlich groß. Sie wollten, dass ich es zur Sicherheit bei mir trage.
Sie wollten das nicht?
Wir müssen das Seelsorgegeheimnis wahren. Bei Funkgeräten gibt es bei Inhaftierten die Angst, abgehört zu werden. Einige fanden es nicht gut, anderen war es egal. Letztlich hat es bei den Gesprächen keinen Unterschied gemacht, habe ich gemerkt. Ich war dadurch auch informierter über Vorkommnisse im Gefängnisalltag.
Sie waren ein Bindeglied zwischen Inhaftierten und JVA-Mitarbeitern. Was sehen Sie kritisch an der JVA Tegel?
Im Gefängnis sollen Menschen resozialisiert werden. Man sollte schauen: Was hilft den einzelnen Personen konkret? Ich würde mir wünschen, dass man den Insassen individuellere Angebote macht – auch wenn der Staat alle gleich behandeln muss.
Haben die Gefängnismitarbeitenden ein Interesse daran?
In ihrer Laufbahn bekommen sie Einblicke in viele Bereiche und dadurch einen guten Eindruck von Menschen. Viele beginnen den Job, weil sie Menschen helfen wollen, machen dann aber negative Erfahrungen – dass sie ausgenutzt werden zum Beispiel. Oder eine Person, in die sie viel Zeit investiert haben, wird erneut inhaftiert. Das kann frustrierend sein.
Sie haben mit Inhaftierten außerhalb des Gefängnisses Erdbeeren gesammelt und Marmelade eingekocht. Warum das?
Es fing an mit einem Inhaftierten, der Ausgang hatte. Ich durfte ihn begleiten. Die Frage ist ja: Was macht man, wenn man raus darf? Man muss das bei der JVA angeben. Der Mann hatte keine Familie, zu der er gehen konnte, wollte etwas Sinnvolles machen. Wir haben dann Erdbeeren gepflückt, und dabei kann man sich wunderbar unterhalten.
Haben die Männer wirklich gern Marmelade eingekocht?
Die Inhaftierten möchten gern etwas Sinnvolles tun. Aber das ist schwierig, wenn man die ganze Zeit eingesperrt ist. Es gibt zwar Arbeit im Gefängnis, aber viele erleben die nicht als sinnstiftend. Marmelade mit der Pfarrerin einzukochen, die dann für den guten Zweck auf dem Weihnachtsmarkt verkauft wird, ist was anderes. Das Geld geht in die Seelsorge, sie haben unsere Arbeit also mitfinanziert.
Wie haben die Inhaftierten Ihnen Dankbarkeit für Ihre Arbeit gezeigt?
Sie haben Briefe geschrieben, gemalt, mir ein Buch mit Erinnerungen zum Abschied geschenkt. Das hat mich sehr gefreut. Ich habe viel Dankbarkeit erfahren von den Männern. Im Sinne von: „Hey, du gehörst zu uns.“ Aber wenn ich in ein Gesicht geblickt und gesehen habe, wie es sich entspannt, dann war das für mich Dank genug.